Die russische Gräfin
Gisela.«
»Ich weiß«, sagte Oliver gereizt. Er wußte, daß sein Vater nur besorgt um ihn war, doch auf einmal fühlte er sich wieder in seine Jugend versetzt und empfand aufs neue die eigene Verletzlichkeit und die damit einhergehende Unsicherheit. »Die hohen Ansprüche der Gesetze sind mir sehr wohl bewußt!« – Er merkte selbst, wie störrisch er klang. – »Aber wir haben bis zum Prozeß noch etwas Zeit. Ich werde sie nutzen und noch mehr in Erfahrung bringen. Monk wird für mich ermitteln. Wenn jemand Beweise aufspüren kann, dann er.«
Henrys Sorgen konnte er damit freilich nicht ausräumen.
»Aber hast du auch die möglichen Folgen bedacht? Was immer du zutage förderst, wird große Kreise ziehen und vielen Leuten peinlich sein. Einige davon sind sehr mächtig…«
Olivers Augen weiteten sich. »Willst du damit sagen, ich soll nicht nach der Wahrheit suchen, weil sie jemanden in Verlegenheit stürzen könnte? Das entspräche aber gar nicht deinem sonstigen Wesen.«
Henry starrte ihn kühl an.
Oliver errötete, wich seinem Blick aber nicht aus.
»Komm mir nicht mit Sophistereien, Oliver«, brummte sein Vater müde. »Das ist unter deiner Würde und, wie ich hoffe, unter unserer Wertschätzung füreinander. Du weißt ganz genau, daß ich etwas anderes meine. Du sprichst über die Wahrheit, als wäre sie etwas Absolutes, Unbestreitbares, das man aufspüren und erklären kann und womit sich über Nacht Gerechtigkeit herstellen ließe. Das ist naiv, und ich bin sicher, daß du es selbst ebenso siehst, wenn du nur ein bißchen ehrlicher zu dir bist. Du wirst Aspekte der Wahrheit herausfinden, bestimmte Wahrheiten, aber welchen Teil des Gesamtbildes sie ausmachen, wirst du nie erfahren. Auch kannst du nicht vorhersehen, wie andere darauf reagieren und ob sie überhaupt bereit sein werden, etwas zu glauben, das ihnen mißfällt, oder ob sie lieber die Augen zumachen, wenn sie etwas Unangenehmes über sich selbst oder ihnen nahestehende Menschen erfahren.« Er neigte sich vor. »Die Menschen können sehr heftig reagieren, wenn ihre Träume zerstört werden, Oliver. Und die Romanze zwischen Friedrich und Gisela ist eine der größten Liebesgeschichten Europas. Bist du wirklich sicher, daß die Wahrheit – oder deine Version davon um jeden Preis ans Licht kommen soll?«
»Ich bin mir sicher, daß Mord nicht unter den Teppich gekehrt werden darf!« entgegnete Oliver hitzig.
»Warum glaubst du denn, daß es Mord war?« fragte Henry in ernstem Ton, der aufrichtiges Interesse erkennen ließ.
»Ich halte Mord für möglich. Ich bin mir nicht sicher, daß die Tat von Gisela begangen wurde, auch wenn sie wohl ein triftiges Motiv dafür hatte. Aber es gibt noch andere. Die politische Situation in Felzburg ist höchst brisant: Es wird darüber gestritten, ob das Land unabhängig bleiben oder im Deutschen Reich aufgehen soll. Stolz und Nationalismus kommen ins Spiel und auch die Interessen der Waffenhändler. Es wird gemunkelt, daß Friedrich aufgefordert wurde, in seine Heimat zurückzukehren und die Unabhängigkeitsbewegung anzuführen, während der gegenwärtige Kronprinz zur Vereinigung neigt. Ein Krieg ist nicht auszuschließen. Folglich könnte es sich auch um ein politisches Attentat gehandelt haben. Ob so oder so, die Tat muß gesühnt werden.«
»Allerdings«, stimmte Henry zu. »Aber damit kannst du deine Mandantin nicht verteidigen, Oliver. Sie hat ja nicht gesagt, daß Friedrich ermordet wurde, sondern sie hat seine Frau des Mordes bezichtigt. Es mag zutreffen, daß du sie verteidigst, weil es bei diesem Tod nicht mit rechten Dingen zugegangen ist, aber du hast es nicht nur mit maßgeblichen Leuten zu tun, die viel Macht und Geld haben, sondern auch mit gefährlichen Emotionen. Man macht sich unbeliebt, wenn man bestimmten Leuten die Glaubensgrundlagen entzieht.«
»Mir geht es doch nicht um Popularität«, schnaubte Oliver verächtlich.
»Natürlich nicht, mein lieber Junge. Aber du hast ja auch noch nie erlebt, was es heißt, unbeliebt zu sein. Im Vergleich zu den meisten anderen hast du bisher ein bequemes und absolut sicheres Leben geführt, hast immer gewußt, wer du bist und wo du stehst, und wurdest stets respektiert. Du weißt nicht, was es bedeutet, Mächtige gegen sich aufzubringen oder den Haß des Mannes und der Frau auf der Straße zu spüren, weil man ihre Träume zerstört hat. Ich bitte dich ja nur, noch einmal genau nachzudenken, bevor du dich auf diesen Fall einläßt. Er könnte
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