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Die russische Gräfin

Die russische Gräfin

Titel: Die russische Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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sich als weitaus größer – und gefährlicher – erweisen, als dir lieb sein kann.«
    Oliver schluckte. Dagegen fiel ihm kein Argument mehr ein. Sein Vater hatte vollkommen recht, und er zweifelte nicht einen Moment daran, daß er dies nur aus Sorge um ihn gesagt hatte. Aber jetzt war es zu spät für derartige Warnungen. Er hatte Zorah Rostova schon sein Wort gegeben und konnte es nicht mehr brechen; das ließen weder sein Stolz noch seine Berufsehre zu.
    »Das kann ich leider nicht mehr«, murmelt er. »Ich habe schon zugesagt.«
    Henry seufzte. »Ich verstehe.« Auf weitere Kommentare zu soviel Leichtsinn verzichtete er. Es würde ja nichts mehr nützen. Außerdem gehörte er nicht zu denen, die es nötig hatten, ihre Siege auszukosten. »Nun, wenn das so ist, dann laß es mich bitte wissen, wenn ich dir irgendwie helfen kann. Und sei um Himmels willen vorsichtig, Oliver.«
    »Natürlich«, versprach sein Sohn, obwohl er wußte, daß es dafür schon zu spät war.

2
    Monk nahm Oliver Rathbones Brief gespannt entgegen, als er ihm mit der ersten Post überreicht wurde. Er hatte soeben sein Frühstück beendet und las ihn im Stehen neben dem Tisch.
    Rathbones Fälle waren immer bedeutend; oft drehten sie sich um Gewaltverbrechen und leidenschaftliche Gefühle, und jedesmal zwangen sie Monk, bis an seine Grenzen zu gehen. Freilich entsprach das auch seinem Wesen. Er wollte es so, er genoß es, auszuloten, wie weit seine Fähigkeiten, sein Einfallsreichtum, seine physische und mentale Belastbarkeit reichten. Mehr als den meisten anderen war es ihm ein Bedürfnis, sich stets aufs neue selbst zu erfahren – und das hatte auch einen konkreten Grund: Vor drei Jahren hatte er bei einem Kutschenunfall das Gedächtnis verloren. Alles, was er bis dahin erlebt hatte, war in schwärzeste Dunkelheit getaucht; nur hin und wieder tanzte ein Funke schemenhaft durch seine Erinnerung, um gleich wieder im Nichts zu verschwinden. Manche dieser Fetzen waren angenehm, sie hatten mit seiner Kindheit zu tun, seiner Mutter, seiner Schwester Beth und der wilden Küste von Northumberland mit ihren Sandstränden und ihrem endlosen Horizont. Er hörte das Kreischen der Möwen, sah die bemalten Fischerboote durch das graugrüne Wasser gleiten und roch den salzigen Wind über der Heide.
    Andere Erinnerungen, vor allem seine Auseinandersetzungen mit Runcorn, seinem Vorgesetzten bei der Polizei, waren weniger schön. Es gab Momente, da ahnte er, daß Runcorns Groll auf ihn zu einem großen Teil von seiner eigenen Arroganz herrührte. Er war ungeduldig mit ihm gewesen, weil er für seine Begriffe zu langsam war. Zudem hatte er sich über Runcorns Geltungsdrang lustig gemacht und ihn wiederholt vor anderen bloßgestellt. Wenn er es genau bedachte, konnte er Runcorn diesen Haß nicht verübeln. Wäre er an seiner Stelle gewesen, hätte er wahrscheinlich nicht anders reagiert. Und das war das Schmerzhafte an diesen Erinnerungsbruchstücken. Vieles von dem, was er über sich erfuhr, gefiel ihm nicht. Natürlich hatte er auch gute Seiten gehabt. Niemand hätte ihm Mut, Intelligenz oder Ehrlichkeit abgesprochen. So hatte er bisweilen unverblümt die Wahrheit gesagt, obwohl Schweigen rücksichtsvoller und ganz gewiß klüger gewesen wäre.
    Über seine sonstigen Beziehungen, insbesondere zu Frauen, hatte er wenig erfahren. Keine hatte unter einem guten Stern gestanden. Offenbar hatte er sich immer in stille, sanfte Schönheiten ohne Lebensmut oder -freude verliebt, so daß er nach jedem Bruch nur noch einsamer und enttäuschter gewesen war. Vielleicht hatte er das, wonach er sich sehnte, bei den Falschen gesucht. Nun, die Wahrheit war, das bißchen, was er zu wissen glaubte, beruhte auf wenigen kalten Fakten, die er rekonstruiert hatte, und auf Erinnerungen an Gefühle, die diese Frauen in ihm ausgelöst hatten. Die wenigsten davon waren schön, und wirklich erklären ließ sich kein einziges.
    Mit Hester Latterly aber war es anders. Er hatte sie nach dem Unfall kennengelernt und war mit jedem Detail ihrer Freundschaft vertraut. Wenn »Freundschaft« der zutreffende Begriff war; manchmal grenzte ihre Beziehung an Feindschaft. Am Anfang hatte er sie nicht ausstehen können. Und auch jetzt noch konnte sie ihn mit ihrer Rechthaberei und Dickköpfigkeit bis zur Weißglut reizen. An ihr war so gar nichts Romantisches, Feminines oder Anziehendes. An die Kunst der Verführung machte sie keine Zugeständnisse.
    Nein, ganz zutreffend war diese Einschätzung auch

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