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Die russische Gräfin

Die russische Gräfin

Titel: Die russische Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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ruhten ihre Hände regungslos auf dem Bezug, und ihre Stirn war in Falten gelegt. »Ich weiß es nicht. Ich habe viel darüber nachgedacht. Man muß bei solchen Dingen kühlen Kopf bewahren. Am Anfang war ich vehement dagegen. Ich wollte meine Identität als Felzburgerin bewahren.« Sie biß sich auf die Lippen, als müßte sie sonst über ihre eigene Dummheit lachen. Den Blick unverwandt auf Hester gerichtet, fuhr sie fort. »Ich weiß, daß das Ihnen als Britin und Untertanin der größten Weltmacht lächerlich erscheinen mag, aber mir war das wichtig.«
    »Es ist überhaupt nicht lächerlich«, widersprach Hester spontan, und sie meinte es aufrichtig. »Sich selbst zu kennen gehört mit zum Glück eines Menschen.« Unvermittelt kam ihr Monk in den Sinn, der vor drei Jahren bei einem Unfall das Gedächtnis restlos verloren hatte. Selbst das eigene Spiegelbild hatte er nicht wiedererkannt. Und unter welchen inneren Qualen hatte er gelitten, als ihm Erinnerungsfetzen durch den Sinn geschossen waren oder er mit konkreten Hinweisen auf sein früheres Ich konfrontiert worden war! Bei weitem nicht alles davon war angenehm oder leicht zu akzeptieren. Auch jetzt noch verfügte er über nicht mehr als vereinzelte Bruchstücke. Das meiste war weiterhin in einem abgelegenen Teil seines Gehirns vergraben. Andererseits fühlte er sich zu verletzlich, um diejenigen, die es wissen mußten, danach zu fragen. Es waren Feinde und Rivalen drunter und auch ehemalige Kollegen, die er auf einmal nicht mehr kannte. »Es ist wirklich ein besonderes Geschenk, wenn man seine eigenen Wurzeln kennt«, sinnierte sie laut. »Sie bewußt zu zerreißen käme einer Selbstverstümmelung gleich, die man unter Umständen nicht überlebt.«
    »Auch die Weigerung, Veränderungen anzunehmen, ist eine Art Selbstverstümmelung«, erwiderte Dagmar nachdenklich.
    »Und mit dem Widerstand gegen die Vereinigung, die offenbar von allen anderen Staaten gewünscht wird, könnten wir uns isolieren. Oder schlimmer noch, wir könnten einen Krieg vom Zaun brechen. Wir könnten aber auch so geschluckt werden.«
    »Ach, wirklich?« Hester nahm ihr den Bezug ab und legte ihn zusammen.
    Dagmar hob den letzten Bezug auf. »O ja. Es wäre doch viel besser, sich freiwillig dem Deutschen Reich anzuschließen, als nach einem verlorenen Krieg von Preußen als Provinz einverleibt zu werden. Wenn Sie mit der preußischen Politik vertraut wären, würden Sie es bestimmt auch so sehen. Der preußische König ist kein schlechter Mensch, aber auch er kann die Armee nicht ewig kontrollieren; über die Landeigentümer und die Bürokraten hat er ja auch nicht mehr soviel Macht. Darum ging es doch hauptsächlich in der Revolution von '48: Eine Art Mittelklasse beanspruchte mehr Rechte, eine gewisse Geistesfreiheit und ein erweitertes Wahlrecht.«
    »In Preußen oder in Ihrem Land?«
    Dagmar zuckte die Schultern. »Eigentlich überall. Damals gab es in so gut wie allen Ländern Europas Revolutionen. Aber so wie es aussieht, hat nur Frankreich dadurch gewonnen. Preußen jedenfalls nicht.«
    »Sie glauben also, es könnte zu einem Unabhängigkeitskrieg kommen?« Hester war entsetzt. Die Realität des Krieges kannte sie zur Genüge: gräßlich zugerichtete Leichen auf den Schlachtfeldern, entsetzliche Schmerzen, Verstümmelungen und zahllose Tote. Für sie war der Krieg kein Mittel der Politik, sondern die endlose Wiederholung von Qualen, Erschöpfung, Angst und Hunger und je nach Jahreszeit Hitze oder Kälte bis hin zum Erfrieren. Kein vernünftiger Mensch, der das gesehen hatte, konnte einen Krieg wollen, wenn nicht gerade die Eroberung und Versklavung seines Landes drohte.
    »Das ist durchaus möglich.« Wie aus weiter Ferne drang Dagmars Stimme an ihr Ohr, obwohl sie nebeneinander im von der Sonne durchfluteten Flur standen. In Gedanken war Hester freilich im mit Ratten und Bakterien verseuchten Krankenhaus von Skutari und bei den Gemetzeln von Balaklawa und Sewastopol.
    »Es gibt zu viele unter uns, die mit dem Krieg Geschäfte machen«, fuhr Dagmar düster fort. Den Kissenbezug in ihrer Hand hatte sie ganz vergessen. »Sie sehen nichts als die Profite, die sie aus dem Verkauf von Gewehren, Munition, Pferden, Proviant, Uniformen und was weiß ich noch allem schlagen können.«
    Hester schluckte. Einem Volk all dieses Grauen aus purer Geldgier zuzumuten erschien ihr als das Böse schlechthin.
    Dagmar fuhr zerstreut über den Saum des Bezugs, das Blumenmuster und die in die Ecke

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