Die russische Gräfin
nichts mit mir zu tun haben wollen. Ich…«
»Die Situation Ihrer Familie hat nichts mit Ihnen zu tun«, sagte Hester sanft und legte Victoria die Hand auf den Arm.
»Robert ist zu gerecht, um vorschnell Urteile zu fällen. Gehen Sie einfach hinein und denken Sie an seine Probleme und nicht an die Ihren. Dann werden Sie auch nichts bedauern.« Kaum hatte sie das gesagt, als ihr auch schon bewußt wurde, wie weit sie sich vorgewagt hatte, doch Victorias Lächeln zerstreute ihre Befürchtungen.
Die junge Frau holte tief Luft, ließ sie mit einem Seufzer entweichen und klopfte an.
»Darf ich eintreten?«
Robert sah neugierig auf. Hester hatte ihm den Besuch natürlich angekündigt und war überrascht gewesen, wie genau er sich an ihre kurze Begegnung vor über einem Jahr erinnerte.
»Aber bitte, Miss Stanhope«, sagte er lächelnd. »Ich muß mich entschuldigen, daß ich derzeit kein guter Gastgeber sein kann. Im Moment bin ich leider etwas eingeschränkt. Setzen Sie sich doch bitte. Der Stuhl hier neben dem Bett ist recht bequem.«
Victoria leistete der Aufforderung Folge. Einen Moment lang nestelte sie an ihren Röcken herum. Auch wenn die neuen Drahtgestelle einen Fortschritt gegenüber den alten Fischbeinreifen bedeuteten, so waren auch sie unbequem genug. Victoria zwang sich, nicht mehr daran zu denken, und ließ die Röcke einfach fallen, wie sie wollten.
Hester wartete schon auf das unvermeidliche ›Wie fühlen Sie sich?‹ Auch Robert schien damit zu rechnen.
»Jetzt, da das Fieber und die schlimmsten Schmerzen ausgestanden sind, kann ich mir vorstellen, daß Sie sich schrecklich langweilen«, meinte Victoria mit einem dezenten Kopfschütteln.
Robert starrte sie verblüfft an. Dann verzog er den Mund zu einem breiten Lächeln. »Mit einer solchen Frage hatte ich nicht gerechnet«, gab er zu. »Aber Sie haben recht. Und ich habe es satt, allen zu versichern, daß ich mich gut fühle, viel besser als noch vor einer Woche. Ich lese natürlich sehr viel, aber manchmal dröhnt mir die Stille regelrecht in den Ohren und ich schweife in Gedanken ab. Ich brauchte irgendein Geräusch, eins, das auf mich reagiert. Ich habe die Nase voll davon, ständig umsorgt zu werden und selbst keinen Finger zu rühren.« Auf einmal lief er dunkelrot an, als er merkte, wieviel er da einer praktisch wildfremden Frau erzählte. »Verzeihen Sie mir! Sie sind bestimmt nicht gekommen, um sich meine Klagen anzuhören. Alle waren fürchterlich lieb zu mir, wirklich.«
»Natürlich waren sie das«, antwortete sie mit einem schüchternen Lächeln. »Aber bestimmte Dinge kann nun mal niemand ändern. Was lesen Sie denn gerade?«
Er schnitt eine Grimasse. »Schwere Zeiten von Charles Dickens. Es muntert mich zugegebenermaßen nicht unbedingt auf, aber ich mag die Gestalten darin. Ihr Schicksal geht mir nahe, und in der Nacht träume ich, ich würde in diesem Coketown leben.«
»Darf ich Ihnen etwas anderes bringen?« fragte sie. »Etwas Lustigeres vielleicht? Kennen Sie Edward Lears Buch vom Nonsens’?«
Seine Augenbrauen wölbten sich. »Nein, aber ich glaube, es könnte mir gefallen. Es klingt ganz so, als könnte man sich damit vorzüglich von Dickens’ Coketown erholen.«
»Das kann man«, versprach sie. »Es enthält köstlich schrullige Einfalle.«
»O ja, bitte bringen Sie es mir!«
»Und es sind auch Zeichnungen darin«, fügte sie hinzu.
Hester war zufrieden. Auf Zehenspitzen verließ sie den Raum und ging die Treppe hinunter zu Dagmar, die schon im Vestibül wartete.
Victoria Stanhope stattete Robert weitere Besuche ab und blieb jedesmal länger.
»Ich glaube, sie tut ihm gut«, sagte Dagmar, nachdem das Dienstmädchen Victoria bei ihrem vierten Besuch zu Robert geführt hatte. »Er scheint sich richtig auf sie zu freuen, und sie ist ja auch ein wirklich angenehmes Mädchen. Sie könnte eine Schönheit sein, wenn sie nicht…« Sie stockte. »O Gott, das war jetzt gemein von mir!« Sie standen im Licht der Frühherbstsonne im Wintergarten, einem charmanten, mit weiß lackierten schmiedeeisernen Möbeln eingerichteten Raum. Für Schatten sorgten mehrere Palmen und tropische Farne mit gewaltigen Blättern. Die Luft war durchdrungen vom Duft spätblühender Lilien. »Das mit ihrer Familie war ja wirklich schrecklich«, fügte Dagmar betrübt hinzu. »Ich nehme an, damit sind ihr alle Chancen für die Zukunft geraubt worden. Armes Ding.«
Sie meinte natürlich Victorias Chancen auf eine Ehe. Einer jungen Frau stand
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