Die russische Gräfin
deshalb habe ich ja davon erfahren.«
»Ich verstehe«, sagte Hester. Aber sie verstand überhaupt nichts mehr. »Wie dem auch sei, wenn Sie sicher sind, daß Baron und Baronin Ollenheim mich erwarten, dann sollte ich wohl besser meine Sachen packen und hinausfahren.«
»Ich nehme Sie gerne mit«, erbot sich Callandra. »Ihr Haus ist in der Hill Street in der Nähe des Berkely Square.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen.«
Callandra hatte Hester in der Tat den Weg geebnet. Die Ollenheims hießen sie in ihrem Haus herzlich willkommen. Die Bürde, jetzt auf einmal ihren Sohn pflegen zu müssen, belastete sie sehr. Hester empfand Baronin Dagmar als eine äußerst charmante Frau, die sogar eine Schönheit gewesen wäre, hätten Kummer und Sorgen sie nicht gezeichnet. So aber war sie blaß vor Erschöpfung, und die schlaflosen Nächte hatten tiefe Ringe unter ihren Augen gegraben. Daß sie weder Interesse noch Zeit für mehr als schlichte Kleidung hatte, war angesichts dessen nur zu verständlich.
Baron Bernd war genauso mitgenommen wie seine Frau, doch er gab sich mehr Mühe, seine Schmerzen zu verbergen, wie es ja auch von Männern, zumal von Aristokraten erwartet wurde. Dennoch empfing er Hester auf das freundlichste und verhehlte ihr seine Aufgewühltheit keineswegs.
Robert Ollenheim war ein junger Mann von etwa zwanzig Jahren mit hellem Teint und dichtem hellbraunem Haar, das ihm links immer wieder ins Gesicht fiel. Unter normalen Umständen wäre er ein ansehnlicher Mann gewesen, doch auch jetzt, da er vom heftigen Fieber noch geschwächt und mit schmerzenden Knochen im Bett lag, begrüßte er Hester durchaus mit einer gewissen Würde. Er mußte den Ernst der Lage ahnen und sah wohl auch die Gefahr einer dauerhaften Lähmung, erwähnte sie aber mit keinem Wort.
Die technischen Aspekte der Pflege fielen Hester nicht schwer. Sie mußte Robert versorgen, es ihm so bequem wie möglich machen, seine Schmerzen lindern und darauf achten, daß er regelmäßig seine Suppe löffelte, viel Tee trank und allmählich wieder festere Nahrung zu sich nahm. Auch kam der Arzt jeden Tag vorbei, so daß sie die wichtigen Entscheidungen nicht selbst treffen mußte. Schwierig war es allerdings, mit der Angst umzugehen, die die ganze Familie belastete. Niemand nahm das Wort ›Lähmung‹ in den Mund, doch je mehr Tage verstrichen, ohne daß Robert seinen Körper unterhalb der Hüfte spüren, geschweige denn bewegen konnte, desto gedrückter wurde die Stimmung.
Hester vergaß bei all dem nicht, in was für einen brisanten Fall Monk und Rathbone verwickelt waren, und zweimal hörte sie zufällig auch Bernd und Dagmar darüber reden, als sie sich allein fühlten.
Eines Tages, etwa eine Woche nach ihrer Ankunft, sprach sie Dagmar beim Aufräumen frisch gewaschener Wäsche direkt an.
»Wird Prinz Friedrichs Tod sich eigentlich auf die Politik in Ihrem Land auswirken?« Seit sie Monk kannte und selbst an der Mordsache Joscelin Grey teil hatte, war ihr das Stellen von Fragen fast zur zweiten Natur geworden.
»Ich glaube, ja«, erwiderte Dagmar und untersuchte die Stickerei auf einem Kissenbezug. »Es wird viel über die Vereinigung des Deutschen Reichs unter einer Krone geredet. Das würde natürlich bedeuten, daß wir geschluckt würden. Wir sind zu klein, um das Zentrum einer solchen Nation zu werden. Die Pläne des Königs von Preußen gehen in diese Richtung, und Preußen ist eine militärische Großmacht. Dann gibt es noch Bayern, Hannover, Holstein, Westfalen, Württemberg, Sachsen, Schlesien, Pommern, Mecklenburg und nicht zu vergessen Nassau, Thüringen, das Kurfürstentum Hessen und vor allem Brandenburg. Berlin ist eine abscheuliche Stadt, aber es ist zentral gelegen und könnte wohl unsere Hauptstadt werden.«
»Sie meinen als Hauptstadt aller deutschen Staaten als einem Land?« Hester hatte sich noch nie damit beschäftigt.
»Es wird viel darüber geredet. Ob es wirklich so kommt, weiß ich aber nicht.« Dagmar zog einen der Bezüge heraus. »Das hier muß ausgebessert werden. Wenn jemand mit dem Finger darin hängenbleibt, geht alles kaputt. Na ja, ein paar von uns sind für die Vereinigung, ein paar dagegen. Der derzeitige König ist sehr gebrechlich und wird höchstens noch zwei Jahre leben. Sein Nachfolger wird Waldo sein, und er ist für die Vereinigung.«
»Und Sie?« Es war vielleicht eine indiskrete Frage. Hester hatte sie gestellt, ohne vorher zu überlegen.
Dagmar zögerte. Als sie schließlich antwortete,
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