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Die russische Gräfin

Die russische Gräfin

Titel: Die russische Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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im Leben nichts anderes offen, es sei denn, sie hatte viel Geld, eine besondere Begabung oder genügend Kraft und den glühenden Wunsch, Gutes zu tun. Hester erzählte Dagmar nicht, daß Victoria auch ohne die Schande ihrer Familie nie eine Chance gehabt hätte, eins dieser Dinge zu erreichen. Sie respektierte Victorias Wunsch, selbst zu entscheiden, wem sie ihr Geheimnis anvertrauen wollte. An ihrer Stelle hätte sie es wahrscheinlich nie preisgegeben. Tragödien wie diese gehörten zur Intimsphäre, die niemanden etwas anging.
    »Ja«, sagte sie geradeheraus. »Das ist richtig.«
    »Wie ungerecht!« rief Dagmar kopfschüttelnd. »Aber man weiß nie, was auf einen zukommt. Vor sechs Wochen hätte ich mir nicht träumen lassen, daß Robert einmal ein solches Unglück zustoßen könnte. Und jetzt wird es unser aller Leben verändern.« Sie mied Hesters Blick, ob bewußt oder nicht, war nicht zu erkennen. Und als wolle sie keine Antwort hören, redete sie gleich weiter. »Die arme Prinzessin Gisela muß sich genauso fühlen. Vor einem Jahr war sie noch wunschlos glücklich. Ich glaube, jede Frau beneidete sie darum, ein bißchen zumindest.« Sie lächelte. »Ich war jedenfalls neidisch.
    Träumen wir nicht alle von einem gutaussehenden, charmanten Mann, der uns so leidenschaftlich liebt, daß er alles aufgeben würde, nur um mit uns zusammenzusein?«
    Hester dachte an die Zeit zurück, als sie achtzehn gewesen war, und an die Träume, die sie damals gehabt hatte. »Ja, da haben Sie wohl recht«, stimmte sie widerstrebend zu. Irgendwie kam ihr das Mädchen, das sie damals gewesen war, fremd vor. Sie hatte sich für unendlich klug und unverletzlich gehalten. Dabei war sie so furchtbar naiv gewesen.
    »Die meisten von uns finden sich mit der Realität ab«, fuhr Dagmar fort. »Und letztlich sind sie auch ganz zufrieden damit. Oder machen etwas Gutes daraus. Aber trotzdem sind Träume doch etwas Natürliches! Gisela hat sich ihre Träume erfüllt… Das heißt bis zu diesem Frühling, als Friedrich starb. Seitdem ist sie untröstlich. So eine… Einheit zu bilden!« Jetzt sah sie zu Hester auf. »Sie wissen doch, daß sie unzertrennlich waren? Er liebte sie so sehr, daß er nie müde wurde, sie anzuschauen, ihr zuzuhören, sich an ihrem Lachen zu erfreuen. Nach zwölf Jahren fand er sie so faszinierend wie am Anfang.«
    »Da Neid zu empfinden wäre nur zu natürlich«, gab Hester zu. Ihr wäre es schwer gefallen, solchem Glück zuzusehen, ohne es auch für sich zu wünschen. Und wenn sie früher einmal in den Prinzen verliebt gewesen wäre, dann hätte sie sein Glück mit der anderen Frau jeden Tag aufs neue verletzt. Sie hätte sich gefragt, warum nicht sie diese Leidenschaft in ihm geweckt hatte, woran es ihr fehlte – an Charme, Fröhlichkeit, Zärtlichkeit, Geistesgegenwart, Großzügigkeit oder an Ehre. Ob sie ihm schlichtweg nicht genug bot, sei es mit ihrem Aussehen, sei es in der Liebe, die sie selbst ja nur von ihren Träumen, ihren Sehnsüchten kannte. Rührte von all dem eine Wunde in Zorah Rostova her, die seit Jahren in ihr schwelte und vielleicht ihren Verstand getrübt hatte?
    Dagmar riß zerstreut vertrocknete Palmenwedel ab.
    »Wie war der Prinz?« wollte Hester wissen.
    »Sie meinen, wie er aussah?« fragte Dagmar lächelnd.
    »Nein, als Mensch. Womit beschäftigte er sich gern? Angenommen, ich hätte einen Abend in seiner Gesellschaft verbracht, bei einer Dinnerparty zum Beispiel, woran hätte ich mich danach am besten erinnert?«
    »Bevor er Gisela kennenlernte oder danach?«
    »Bitte erzählen Sie mir von beidem.«
    Beim Bemühen, sich zu konzentrieren, vergaß Dagmar ganz die Pflanzen. »Nun, vor Gisela dachte man bei ihm zuallererst an seinen Charme.« Sie lächelte unwillkürlich. »Sein Lächeln war wunderschön. Er sah einen an, als würde ihn alles, was man sagte, aufrichtig interessieren, ja als würde er es richtig in sich aufsaugen, um auch wirklich nichts zu verpassen. Und das war keine bloße Höflichkeit! Ich glaube, woran man sich später als erstes erinnerte, das war die Gewißheit, daß er einen mochte.«
    Hester lächelte ebenfalls. Ihr wurde ganz warm ums Herz bei diesem Bild von einem Menschen, der voll und ganz in der Begegnung mit anderen aufging. Kein Wunder, daß Gisela ihn so geliebt hatte. Und wie schrecklich mußte sie sich jetzt fühlen! Als wäre sie mit diesem Verlust, ihrer Einsamkeit nicht genug gestraft, wurde sie nun auch noch mit dieser ungeheuerlichen Beschuldigung

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