Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die russische Gräfin

Die russische Gräfin

Titel: Die russische Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
Vom Netzwerk:
Londoner Haus hinter sich ließ: Aus ihr sprach alle magische, doch hoffnungslose Liebe, der Ausdruck einer universellen Sehnsucht.
    Hester schlich ins Nachbarzimmer, wo sie ein Feldbett hatte, damit sie auch in der Nacht in Roberts Nähe sein und im Notfall sofort zur Hilfe eilen konnte. Dort gab es genug zu tun: aufräumen und die Kleidungsstücke, die die Wäscherin zurückgebracht hatte, zusammenlegen und in den Schränken verstauen.
    Fünfzehn Minuten später klopfte sie bei Robert an und öffnete nach kurzem Zögern die Tür. Sie mußte wissen, ob er etwas essen oder vielleicht einen Tee wollte.
    Victoria hatte soeben das Buch zugeklappt. »Beim nächsten Mal lese ich Ihnen die Belagerung und die Ankunft von Sir Galahad vor«, versprach sie. »Nirgendwo sonst werden Mut und Ehre so schön beschrieben!«
    Robert seufzte. Hester konnte sein Gesicht sehen. Es war bleich, und die Mundwinkel waren herabgezogen. War er traurig, oder hatte er Angst? Er mußte doch begriffen haben, daß sein Rücken viel zu langsam verheilte. Zu ihr hatte er noch nie etwas gesagt, aber woran mochte er nur in all den Stunden denken, in denen er allein in diesem sauberen, stillen Zimmer lag, das seine Eltern so liebevoll für ihn hergerichtet hatten? Sie taten alles für ihn, hielten sich ständig in seiner Nähe auf, lasen ihm jeden Wunsch von den Augen ab, und doch wußten sie, daß sie mit allem, was sie für ihn taten, bestenfalls die Oberfläche berührten. An die darunterliegende, alles verzehrende Angst kamen sie nicht heran. Auch wenn sie in ihrem Bewußtsein allgegenwärtig war, wagten sie es nie, darüber zu sprechen.
    Roberts Augen und die Ringe auf der dünnen Haut darunter verrieten Hester, daß sich hinter allem, was er sagte, Angst verbarg.
    »Schön«, sagte er höflich zu Victoria. »Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen.«
    Sie sah ihm fest in die Augen. »Ist es Ihnen lieber, ich lese nichts vor?«
    »Nein!« rief er eilig. »Es ist eine wunderschöne Geschichte. Ich kenne zwar schon das meiste, aber es tut gut, sie so zu hören, wie sie erzählt gehört. Sie lesen so wunderschön.« Obwohl er sich jede Mühe gab, sich dankbar und höflich zu zeigen, erstarb seine Stimme beim letzten Wort.
    »Aber Sie wollen keine Geschichten über Helden hören, die kämpfen, Schwerter schmieden und wild galoppieren können, während Sie im Bett liegen und zu keiner Bewegung fähig sind«, sagte Victoria mit brutaler Offenheit.
    Hester überlief ein eiskalter Schauer.
    Robert wurde kreidebleich. Da er kein Wort sagte, befürchtete Hester schon, er lege sich verletzende Worte zurecht, die er später nie wieder würde gutmachen können.
    Wenn Victoria dasselbe glaubte, verbarg sie ihre Gefühle meisterhaft. Mit kerzengeradem Rücken, straffen Schultern und erhobenem Kopf saß sie da und wartete.
    »Es gab Zeiten, als ich das auch nicht wollte«, fuhr sie mit leicht bebender Stimme fort. Die Erinnerung tat immer noch weh.
    »Sie können ja laufen!« brach es aus Robert hervor. Man konnte fast meinen, das Sprechen bereite ihm Qualen.
    »Das konnte ich lange nicht«, entgegnete sie in fast beiläufigem Ton. »Und bis heute habe ich Schmerzen dabei«, fügte sie mit zitternder Stimme hinzu. Die Scham und die Erinnerung an ihre Leiden hatten ihre Wangen gerötet. Unter dem allzu dünnen Fleisch zeichneten sich ihre zerbrechlichen Knochen ab. »Ich bin schlecht zu Fuß. Ich bin schrecklich ungeschickt. Ich stoße alles mögliche um. Sie haben wenigstens keine Schmerzen.«
    »Ich…« Er setzte zu Widerspruch an, begriff aber, daß er keine Argumente dafür hatte. Tatsächlich waren seine physischen Schmerzen fast überstanden. Zurück blieben aber hilflose, nagende Verzweiflung, das Wissen, mit seinen leblosen Beinen ans Bett gekettet zu sein.
    Victoria wartete stumm.
    »Es tut mir leid, daß Sie Schmerzen haben«, sagte Robert schließlich. »Aber ich würde gerne Schmerzen ertragen, wenn ich mich nur bewegen könnte, und sei es auch ungeschickt, statt mein Leben lang herumzuliegen wie ein Kohlkopf.«
    »Und ich würde lieber bequem auf einem Bett liegen«, entgegnete sie mit belegter Stimme. »Ich möchte von anständigen Eltern geliebt werden, die Gewißheit haben, daß sich immer jemand um mich kümmert, nie unter Kälte und Hunger leiden und nie allein sein. Es wäre so schön, keine Angst mehr zu haben, daß die Schmerzen zurückkehren. Aber wir können es uns nun mal nicht aussuchen. Und wer weiß, vielleicht können Sie ja eines Tages

Weitere Kostenlose Bücher