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Die russische Gräfin

Die russische Gräfin

Titel: Die russische Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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verfolgt. Was war nur in Rathbone gefahren, daß er Zorahs Verteidigung übernommen hatte? Der Adelstitel mußte ihm zu Kopfe gestiegen sein!
    »Und nachdem er Gisela kennengelernt hatte…«, fuhr Dagmar fort.
    Hester gab sich einen Ruck. Sie hatte ganz vergessen, daß sie auch das hatte wissen wollen. »Ja?« fragte sie, um einen gespannten Tonfall bemüht.
    »Ich glaube, er war anders«, erklärte Dagmar nachdenklich.
    »Es verletzte ihn, daß Gisela nicht akzeptiert wurde. Aber auch wenn er seiner Familie nie allzu nahe stand, vor allem seiner Mutter nicht, ging er schweren Herzens ins Exil. Insgeheim glaubte er immer daran, daß man ihn eines Tages zurückholen und dann auch Giselas Wert erkennen würde.« Sie schaute zwischen Farnblättern hindurch zu den Fenstern. »Ich kann mich noch gut an den Tag erinnern, an dem er fortging. Tausende säumten die Straßen. Viele Frauen weinten, und jeder wünschte ihm alles Gute. ›Gott segne dich!‹ riefen sie alle und winkten mit Taschentüchern und streuten Blumen über den Weg.«
    »Und Gisela?« fragte Hester. »Wie waren die Gefühle ihr gegenüber?«
    »Sie wurde abgelehnt. Es herrschte eine Stimmung, als hätte sie ihn uns gestohlen.«
    »Was für ein Mensch ist sein Bruder?«
    »Waldo?« rief Dagmar mit einem amüsierten Auflachen.
    »Ach, auf den ersten Blick ist er viel einfacher, ja, langweiliger. Sein Charme reichte bei weitem nicht an den von Friedrich heran. Aber wir lernten ihn schätzen. Und natürlich ist seine Frau überall beliebt. So etwas macht wirklich enorm viel aus, verstehen Sie. Vielleicht hatte Ulrike ja doch recht. Die Person, die wir heiraten, verändert uns mehr, als ich früher dachte. Jetzt, da Sie mich danach fragen, wird mir so richtig klar, wie sehr sich die zwei Brüder in den Jahren verändert haben. Waldo ist stärker und klüger geworden und hat gelernt, die Zuneigung der Menschen zu gewinnen. Ich glaube, daß er glücklich ist, und zufriedene Menschen sind freundlicher, finden Sie nicht auch?«
    »Ja«, sagte Hester emphatisch. »Das stimmt wirklich. Aber was wurde aus der Gräfin Rostova, nachdem Friedrich und Gisela das Land verlassen hatten? Vermißte sie ihn?«
    Diese Frage schien Dagmar zu überraschen. »Ich weiß es nicht«, sagte sie zögernd. »Sie tat ein paar höchst seltsame Dinge. So fuhr sie nach Kairo und von dort auf dem Nil weiter nach Karnak. Allerdings weiß ich nicht, ob das mit Friedrich zusammenhing oder ob sie die Reise ohnehin geplant hatte. Ich mochte Zorah, aber ich kann nicht behaupten, daß ich sie je verstanden habe. Sie hatte ganz bizarre Ideen.«
    »Zum Beispiel?«
    »Über die Möglichkeiten der Frauen zum Beispiel.« Dagmar schüttelte lachend den Kopf. »Sie meinte doch glatt, wir sollten uns zusammentun und uns unseren Männern verweigern, solange sie uns nicht an der politischen Macht teilhaben ließen. Wenn das nicht verrückt war… Natürlich war sie damals noch jünger.«
    Hester legte nachdenklich die Stirn in Falten. »Gab es nicht ein griechisches Theaterstück über dieses Thema?«
    »Griechisch?« fragte Dagmar perplex.
    »Ja, im klassischen Altertum. Da wollten die Frauen einen Krieg zwischen zwei Stadtstaaten beenden.«
    »Ach, ich weiß nicht. Das ist ja auch völlig absurd.«
    Hester wollte ihr nicht widersprechen, aber mit einem Mal kam ihr Zorah gar nicht mehr so merkwürdig vor. So ähnlich dachte sie ja auch. Sie konnte sich gut vorstellen, wie Rathbone auf solche Thesen reagieren würde, und schmunzelte auf einmal.
    Dagmar, die Hesters Reaktion als Zustimmung mißverstand, lächelte nun ebenfalls. Für eine Weile gerieten alte Tragödien und gegenwärtige Ängste in Vergessenheit. Die zwei Frauen blieben noch ein bißchen und sogen den Geruch der Blumen und der feuchten Erde in sich auf, bis Hester schließlich wieder bei Robert nach dem Rechten sehen mußte.
    Wie immer ging sie fast lautlos die Treppe hinauf. Die Tür zu Roberts Zimmer stand halb offen, wie es sich gehörte, wenn ein Mann Damenbesuch hatte. Weil sie nicht in ein Gespräch platzen wollte, sah Hester zunächst nur hinein.
    Das Zimmer war in Sonnenlicht gebadet.
    Robert lag lächelnd da und hörte gebannt Victoria zu. Sie las ihm aus Malorys Der Tod Arthurs die Liebesgeschichte von Tristan und Isolde vor. Ihre Stimme war sanft und zugleich eindringlich. Und wenn sie auch das Tragische voll erfaßte, so schwang in ihr doch auch eine Musikalität mit, die das Hier und Jetzt eines Krankenzimmers in einem eleganten

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