Die Saat - Ray, F: Saat
Nahrungsmittelherstellern entschieden zurückgewiesen.
Hersteller Latté bezichtigt Ökobewegungen, die Untersuchungen manipuliert zu haben, und lehnt jegliche Verantwortung ab. In Berlin, Frankfurt und Hamburg haben Eltern der Kinder, die an der BDP genannten Gehirndegeneration erkrankt und gestorben sind, gerichtliche Schritte gegen Latté angekündigt. Im Gegenzug hat Latté sie einer Verleumdungskampagne nie gekannten Ausmaßes bezichtigt und bereits Schadensersatzzahlungen in dreistelliger Milliardenhöhe erwähnt …«
Wie Lejeune jetzt durch die Nacht nach Hause fährt, denselben Weg wie immer nimmt, erscheint ihr alles verändert. Die Ampeln leuchten heller, die Neonschilder der Cafés, Restaurants und Geschäfte auf dem Boulevard Saint-Germain flackern bunter und fröhlicher. Wie oft ist sie diese Straße hinauf und hinunter gefahren, ohne ihre Schönheit, ihre Lebendigkeit und Vielfältigkeit zu erkennen?
Was, wenn ihr Gehirn plötzlich nur noch … eine zähe Masse wäre? Oder das der Kinder – und das von Roland? Alle haben sie Maischips gegessen. Chipmax, klar. Und Mais aus Dosen. Sie haben Popcorn gegessen, vor vier Wochen ganz sicher, als sie zu viert im Kino waren. Tacos? Ja, auch die standen auf dem Tisch. Weil die Kinder diese mexikanische Pampe lieben, die man ohne Besteck isst. Vorgestern gab es Tacos – aus Maisteig.
Sie wird es Roland sagen, wird ihm erzählen, dass sie allevielleicht schon diese schreckliche Krankheit in sich tragen, ja dass ihr Gehirn schon angefangen hat, löchrig zu werden. Dadurch erscheint ihr Leben doch in einem ganz anderen Licht, oder? Vielleicht haben sie nur noch wenige Tage oder Wochen miteinander … eine Scheidung … Ist eine Scheidung nicht geradezu absurd in einer solchen Zeit? Das wird sie Roland sagen. Genau das. Vielleicht könnten sie alle zusammen in die Bretagne fahren, in das Ferienhaus ihrer Cousine. Seit zwei Jahren schon wollen sie ein paar Wochen dort verbringen. Immer ist etwas dazwischengekommen. Die Ampel vor ihr schaltet auf Rot, einen Moment überlegt sie, ob sie bremsen soll, doch dann tritt sie aufs Gas. Vielleicht ist es noch nicht zu spät, das Leben zu ändern …
16
Ethan sieht wieder auf die Uhr. Der Zug der Demonstranten blockiert die Place de la Concorde. Gendreck weg! steht auf ihren Plakaten und Glaubt ihnen nicht!. »Die war nicht angemeldet«, sagt der Taxifahrer und schlägt aufs Steuer. »Das sind doch alles nur Chaoten!« Ethan schätzt ihn auf Ende dreißig, ein untersetzter Typ mit Hängebacken und Halbglatze. Reaktionär. National. Einer, der fürs harte Durchgreifen ist, der gleich nach der starken Hand ruft. Einer, der errungene Bürgerrechte freiwillig abgibt …
Noch drei Stunden bis zum Start der 11-Uhr-30-Maschine der Air Canada. Am Nachmittag, um kurz vor zwei Uhr Ortszeit, sind sie auf dem Pearson International Airport in Toronto. Wenn das Wetter es erlaubt, erreichen sie irgendwann am Abend Cornwallis Island, die letzte Station vor Ellesmere Island. Camille hat es irgendwie geschafft, ihn als Journalist zu akkreditieren.
Der Taxifahrer hat das Radio aufgedreht. »Grüne, Linkeund Globalisierungsgegner haben europaweit zu Protestmärschen gegen genveränderte Nahrung aufgerufen. Ihren Angaben zufolge wird die als BDP bezeichnete Gehirndegeneration durch gentechnisch veränderte Nahrungsmittel hervorgerufen. BDP hat europaweit inzwischen einhundertdreiundzwanzig Todesopfer gefordert. In Berlin wurde gestern Nacht gegen nichtgenehmigte Demonstrationen massiv vorgegangen. Mehr als dreihundert Demonstranten wurden festgenommen. Hundertfünfzig wurden verletzt. Auch in Paris geht die Polizei gegen Demonstranten vor …«
»Das möchte ich sehen!«, kommentiert der Fahrer und hupt wütend.
Ethan wirft einen Blick zur Seite auf Camille. Sie wirkt abwesend. Seit gestern, als sie ihre Wohnung verlassen und für eine Nacht bei Sarah Unterschlupf gefunden haben, hat sie kaum mit ihm gesprochen. Ihre plötzliche Veränderung, ihr Vorschlag, gemeinsam auszusteigen, haben ihn verwirrt. Für ihn ist sie die ehrgeizige, knallharte Journalistin gewesen, die über Leichen geht, um ihr Ziel zu erreichen. Und jetzt sieht es so aus, als ob er sich getäuscht hat. Hat sie wirklich etwas für ihn empfunden, oder ist es nur die Angst, die sie in seine Arme treibt? Dass Christian Tout Menti! verraten und vernichtet hat, hat sie heute Morgen erfahren. Jetzt sieht es so aus, als hätte sie alles verloren.
Früher hätte sie ihm
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