Die Saat - Ray, F: Saat
Steven?« Er will nicht sentimental werden. Will ihr nicht sagen, dass er diesen Teil seines Lebens am liebsten vergessen würde, weil er ihm zu weh tut, will ihr nicht sagen, dass er sich tatsächlich Sorgen um Steven macht, weil er ihn Ruth überlassen hat. Wie schnell kommt ein halbwüchsiger Junge in Sydney auf die schiefe Bahn. Drogen, Alkohol, Diebstahl … Und wenn er erst mal im Gefängnis gewesen ist, ist er schon mittendrin im Teufelskreis.
Und ja, natürlich will er nicht, dass Steven diesen Mais isst … Aber Steven und die Welt, die standen nie auf dem Spiel. Es geht um Sylvie, um seinen Schmerz, um seine Versäumnisse, um, ach, um all die Jahre, um die man sie gebracht hat … »Sylvie war schwanger.« Er wollte es eigentlich nicht sagen, es kam so heraus, ausgerechnet jetzt.
Camille sieht ihn nur an, entsetzt, als hätte sie erst in diesem Moment – viel zu spät – etwas begriffen, murmelt, dass es ihr leidtut.
Du kannst nichts dafür, denkt er und sagt: »Hör zu, Camille, versuch nicht, mich zu einem Gutmenschen zu machen, okay? Ich tue das, was ich für richtig halte. Und dass eins klar ist: Ich werde mich nicht für die Menschheit opfern.«
»Du bist egoistisch«, sagt sie und dreht sich zum Fenster.
»Warum tust du es nicht, Camille? Warum sagst du nicht die Wahrheit in die Mikrofone? Ich sage dir, warum du es nicht tust: weil auch du egoistisch bist und weil auch du auf etwas wartest, das man dir versprochen hat.«
Sie sieht ihn nur an, und auch er schweigt.Grise Fjord heißt in der Inuit-Sprache: Land, das niemals taut. Zwei lange Bergrücken, die sich gegeneinanderschieben, davor das Meer und zwischen Bergen und Meer eine Ansammlung bunter, flacher Häuser. Die über dem Horizont stehende Sonne wirft lange Schatten. Es ist nicht mehr lang bis zum Polartag, der am 24. April beginnt und am 18. August endet. Während dieser Zeit sinkt die Sonne nicht unter den Horizont. Ethan ist erstaunt, dass er diese Informationen so präzise gespeichert hat. Jetzt helfen sie ihm, ruhig zu bleiben. Überhaupt – ihm ist, als hätte die Kälte auch seine Gefühle eingefroren.
Die Twin Otter landet unsanft auf der Piste in Grise Fjord.
Beißender Wind schlägt ihm beim Aussteigen ins Gesicht. Im Jeep, der die Journalisten – noch fünf außer ihm und Camille – zum Saatgutbunker bringen soll, riecht es nach Schnee, Diesel – und Salami, als einer der Journalisten ein belegtes Brot auspackt.
Seine Hände sind steif vor Kälte, trotz der dicken Handschuhe.
Nach kurzer Fahrt steigen sie aus. Ein gigantischer Schacht aus Beton mit einem eisernen Tor ragt aus dem linken der beiden Bergmassive. Bewacht von vier schwarz gekleideten Männern mit Maschinengewehren. Auf dem Vorplatz vor dem Tor beleuchten grelle Scheinwerfer das Rednerpult, wo der kanadische Premierminister gerade anfängt, in die vielen Mikrofone zu sprechen. Die etwa zwei Dutzend Journalisten, in dicke Mäntel gepackt, fotografieren und filmen.
»Durch Noah’s Arch, den gefrorenen Garten Eden, hat die Insel einen bedeutenden finanziellen Schub bekommen, während der drei Jahre dauernden Bauarbeiten wurde Geld in die Kassen der Gemeinde gespült, es wurden Arbeitsplätze geschaffen, eine kleine Klinik wurde gebaut, Straßen und ein Apartmenthaus«, sagt der Präsident ins Mikrofon, und eine weiße Atemwolke taucht sein Gesicht in dichten Nebel. »Dankder finanziellen Aufwendungen des Trusts wurde dieses großartige Unternehmen realisiert.«
Er macht Platz für den Generalsekretär der UN, der erwähnt, wie viel Geld die Weltgemeinschaft beigesteuert habe, dass jedoch der Löwenanteil vom Trust aufgebracht worden sei. Seine Rede ist kurz, kein Wort, wer sich hinter dem Trust verbirgt.
Dann spricht der Präsident des Trusts, ein nichtssagendes Gesicht, blass vor Kälte. Auch er verliert kein Wort über die Zusammensetzung des Trusts, beschwört jedoch eindringlich die Notwendigkeit des Saatgutbunkers in diesen unruhigen Zeiten.
Zum Schluss spricht ein Vertreter der Einwohner, der Inuit. Sie seien stolz, Noah’s Arch eine Heimat geben zu dürfen, obwohl Saatgut nicht in einen Tresor gehöre, sondern in die Erde.
Camille steht die ganze Zeit neben Ethan. Sie scheint mit den Gedanken ganz woanders zu sein. Wortlos folgt sie ihm, als die Führung durch den Bunker beginnt. Ein Stahlbetontunnel, hundertdreißig Meter lang. Die schweren Stiefel des bewaffneten Wachpersonals hallen auf dem Betonboden, niemand redet, selbst die Journalisten
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