Die Saat - Ray, F: Saat
den monoton niedrigen, graugrünen Büschen blickt, die gleichen, die man gern auf Gräber pflanzt. Wahrscheinlich, weil sie so langsamwachsen und keine tiefen Wurzeln haben. Eine Patientin mit platt gelegenem weißem Haar wandelt wie ein Geist um die Cafeteria herum. Er erinnert sich an seine Zigaretten. Später, denkt er. Es wundert ihn nicht, wenn jemand, der hier arbeitet, mit der Zeit depressiv wird. Tag für Tag ist Sylvie hierhergekommen, um Leben zu retten, Krankheiten zu bekämpfen. Wie oft musste sie sich eingestehen, dass sie gescheitert war? Haben die Erfolge, die Siege all die Misserfolge, die Ohnmacht aufgewogen? Hat sie sich deshalb einen Liebhaber genommen?
Er sieht auf. Robert schiebt sich den Stuhl zurecht. Sein blütenweißer Arztkittel lässt seine Haut noch dunkler erscheinen. Und seine Haut seinen Kittel noch weißer. Absolut fleckenlos und glatt, bis auf die scharfen Bügelfalten an den Ärmeln.
»Hast du getrunken?«
»Leck mich, Robert! Das geht dich absolut gar nichts an.«
Die beschwichtigende Geste von Robert macht ihn noch wütender.
»Pass auf, Ethan, falls du mich verdächtigen solltest …«
»Und, hab ich recht?«, fragt er angriffslustig.
»Ethan, du bist in einer Ausnahmesituation, ich verstehe dich …« Wieder beschwichtigende Gesten.
»Du verstehst überhaupt nichts, Robert! Gar nichts! Oder hat sich etwa deine Frau umgebracht?«
»Ethan, bitte. Lass mich etwas klarstellen: Sylvie und ich waren Kollegen, und hin und wieder haben wir über Privates geredet. Das war alles.«
Ethan ist sich nicht sicher, ob er ihm das glauben soll. Manchmal ist einem der Typ egal. Manchmal, nach langen Arbeitstagen, wenn man einen Adrenalinschub hat. Ellen war auch nicht sein Typ. Damals, als er noch mit Ruth verheiratet war. Aber sie war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Danach hatte er sich gewundert, dass er sich zuvor nie für sommersprossige Rothaarige interessiert hatte.
»Im Übrigen war Sylvie in der letzten Zeit ein bisschen depressiv, zurückgezogen.« Robert rührt langsam den Zucker in seinem Kaffee um, sein Blick hat etwas Vorwurfsvolles. »Seit dem Tod ihres Vaters.«
»Sie haben sich nicht besonders nahegestanden.« Doch Robert hat recht, Sylvie war niedergeschlagen, verschlossen.
»Sie hat viel, sehr viel gearbeitet«, Robert bricht ab und schüttelt müde den Kopf, »sie hat zu viel von sich verlangt.«
Ethan fällt die Flasche Orangensaft in seiner Hand wieder ein, er schraubt sie endlich auf und trinkt sie in einem Zug leer. Robert sieht ihm mit ärztlich besorgtem Blick zu. Trinken Sie langsam, und vor allem nichts Kaltes.
Wieder diese Wut. Warum ist Sylvie nicht zu ihm gekommen, zu Ethan, und hat ihm gesagt, dass sie überlastet ist?
»Warum?«, fragt er. »Warum hat sie mir das angetan?«
Robert legt die Fingerspitzen seiner auffallend schönen Hände aneinander. Passend für die Lederhandschuhe. Er ist ganz Arzt. Unantastbar, unfehlbar. Warum Sylvie?
»Das fragen sich die Hinterbliebenen immer. Aber es geht nicht um dich, Ethan.«
Das weiß ich. Ethan würde ihn am liebsten an seinem blütenweißen Kittel packen, ihn hochreißen und gegen die Theke schleudern.
»Warum hat sie nicht mit mir geredet?« Vielleicht hat sie es doch, und er hat nur nicht richtig zugehört, war mit seinen Büchern beschäftigt.
Robert legt die Hand auf Ethans Unterarm. »Es tut mir alles sehr leid.«
Ethan fällt auf, wie warm Roberts Hand ist und wie kalt sein eigener Arm. »Niemand bringt sich einfach so um.« Er zieht seinen Arm weg.
Vor Roberts Blick schiebt sich etwas Undurchdringliches. Nur kurz, dann ist es schon vorbei, und er sieht Ethan wieder direkt an.
»Ich hab hier was.« Ethan klatscht die Lederhandschuhe neben den Orangensaft. Robert zieht kaum merklich die Augenbrauen hoch.
»Probier sie an, oder weißt du schon, dass sie dir passen?«
»Was soll das, Ethan?«
»Komm schon, stell dich nicht so an!« Ethan schiebt die Handschuhe über den Tisch. »Nectar, sagt dir das nichts?«
Robert schüttelt langsam den Kopf. Ethan würde am liebsten aufspringen und ihm einen Fausthieb in den Magen verpassen.
»Ethan, ich kann mir vorstellen, wie dir zumute ist, aber du irrst dich.«
Ethan nickt nur, nimmt die Handschuhe, er weiß, dass es besser ist, jetzt zu gehen, sonst wird er noch am Ende Robert das Genick brechen oder verzweifelt vor ihm in Tränen ausbrechen.
Von draußen sieht Ethan, wie Robert im kalten Neonlicht gedankenverloren in seiner Tasse rührt,
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