Die Saat - Ray, F: Saat
mit der Lehne. »Und jetzt arbeitet er für die EFSA. Wundert mich nicht, dass ihm das manche vielleicht nicht so ganz abnehmen.«
»Ist das denn der Fall?«
Er sieht wieder auf den Bildschirm. »Nun, ich lese gerade, es gibt Kritiker, die der Behörde vorwerfen, dass sie nichtobjektiv arbeitet. Weil die meisten ihrer Mitarbeiter angeblich in solchen Firmen gearbeitet haben.«
»Hm.«
»Camille, das liegt doch auf der Hand: Wenn du eine Kapazität bist, kriegst du Angebote von Firmen, und die nimmst du auch an, schließlich musst du ja von irgendwas leben. Irgendwann hörst du bei den Firmen auf und wechselst zu einer Behörde, denn die will ja auch eine Kapazität. Dann gehst du eben dorthin.« Er lehnt sich wieder zurück und verschränkt die Arme hinter dem Kopf. Auf seiner Stirn haben sich Falten gebildet.
»Was ist?«, fragt sie.
»Ach, ich denke manchmal, wir reißen uns den Arsch auf und können uns noch nicht mal einen richtigen Urlaub leisten.«
»Tja. Vielleicht sollten wir uns auf die andere Seite schlagen …« Kurz denkt sie an ihre Schwester auf Martinique.
Er seufzt. »Rechtschaffenheit und gute Absichten zahlen sich nie aus.«
»So was sagst ausgerechnet du? Christian, der Schutzheilige der kritischen Journalisten?«
»Ja, und das meine ich wirklich. Rechtschaffenheit – was soll die für einen Wert haben? Die wurde von den Mächtigen erfunden, um uns klein und abhängig zu halten.«
»He, das sind aber ganz neue Töne!«
»Jeder hat das Recht auf freie Meinungsänderung, oder?« Er grinst sie undurchsichtig an. Dann wird sein Ton wieder sachlich: »Lass uns doch mal etwas über Frosts Biographie herausfinden. Was war er für ein Typ? Mit wem hat er es wohl getrieben? Mit Ratten?«
»Du denkst immer nur an das eine, Christian!« Mein Gott, ich höre mich schon an wie meine Mutter.
18
Sein Schädel ist ein Ballon, seine Zunge trocken wie Sandpapier, sein Speichel schmeckt sauer, und in seinen Adern kocht das Blut. Es ist alles nur ein Traum. Klar, und jetzt gehe ich heim, Sylvie ist schon in der Klinik, arbeitet, alles ist wie immer. Eine Sekunde, zwei – länger nicht – dauert diese Illusion. Dann realisiert Ethan, dass er auf Scotts Sofa liegt, die blaurot gemusterte Schottendecke über sich gebreitet. Auf dem alten Fernseher steht ein leeres Glas. Ein halb volles steht auf dem gläsernen Tischchen vor ihm, daneben die leere Flasche Glenfiddich. Staubflimmern überall. Und der Geruch nach alten Stoffen.
Scotts Schnarchen dröhnt vom Schlafzimmer nebenan durch die Tür. Gedämpft dringt auch die Erinnerung in sein Bewusstsein. Die zwei – oder waren es drei – doppelten Whisky in der Bar gegenüber von Sarahs Wohnung haben nichts geholfen. Hat er etwa geglaubt, sie würden Sylvie ins Leben zurückholen? Er hatte mit Sylvie essen gehen, feiern wollen …
Er wollte nicht nach Hause, fürchtete sich davor, die Wohnung zu betreten, wo die Möbel und all die Sachen wie Richter auf sein Erscheinen warten würden. Jemand sollte ihn von seiner Schuld entlasten, sollte sagen, dass Sylvies Tod nichts mit ihrer Beziehung zu tun hatte. Noch rechtzeitig, er wusste nicht, was er sonst noch unternommen hätte, dachte er an Scott und rief ihn an. Scott McPherson, Schriftsteller wie er, nur nicht so erfolgreich. Doch Scott ist noch nie neidisch gewesen. Ich will nicht mit dir tauschen, hat er schon öfter gesagt, da müsste ich viel zu hart arbeiten. Scotts Schreibtisch unter dem Fenster steht voll mit Kaffeetassen und Gläsern. Dazwischen Stapel mit fleckigem Papier und ein altes Notebook. Seine Frau hat ihn vor zehn Jahren verlassen, hat erEthan einmal erzählt. Seitdem hat er nie wieder jemanden so nah an sich herangelassen.
Ethan kriecht unter der Schottendecke hervor, geht über den abgetretenen grünlichen Teppichboden, kämpft gegen die Übelkeit an und versucht das Gefühl zu ignorieren, waberndes Gelee im Kopf zu haben. Duschen. Wasser trinken. Kaffee trinken. Etwas essen. Frische Sachen anziehen.
Er legt Scott einen Zettel mit dem Wort »Danke« auf die staubige Ablage vor dem Badspiegel, läuft die drei Stockwerke hinunter und erwischt ein Taxi.
Ein kalter, trüber Tag.
Normalerweise macht ihn das ewige Stop and Go nervös, dann sieht er unentwegt auf das tickende Taxameter, auch wenn ihm der Fahrpreis erstattet wird. Die Zeit bekommt im Taxameter einen Geldwert. Einen genau benennbaren, ablesbaren Wert. Aber heute starrt er nur aus dem Fenster, in die anderen Autos, in denen
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