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Die Saat - Ray, F: Saat

Die Saat - Ray, F: Saat

Titel: Die Saat - Ray, F: Saat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fran Ray
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den Botenstoff Dopamin herstellen. Das führt zu einer starken Verlangsamung der Nerventätigkeit.« Dr. Ogilvy setzt seine randlose Brille ab und putzt sie mit einem Zellstofftuch, das er aus dem Spender neben dem Verbandswagen gezupft hat.
    »Es ist erblich, ja?« Sie hat sich noch nicht mit Parkinson beschäftigt. Bisher hatte sie noch keinen Grund dazu.
    »Da kann ich Sie beruhigen.« Er lächelt, während er nochimmer die Brille putzt, zwanghaft, pedantisch. »Die erbliche Form ist eher selten. Fünfundsiebzig Prozent aller Parkinson-Erkrankungen stufen wir als idiopathisch ein.« Ein nachsichtiges Ärztelächeln. »Idiopathisch heißt, die Ursache ist noch nicht erforscht, also – mit anderen Worten: Wir kennen sie nicht. Neueren Untersuchungen zufolge wird ein bestimmtes Protein überproduziert, und dieses überschüssige a-Synuclein stört die Weiterverarbeitung einer Proteinsequenz in ein richtig gefaltetes Protein.« Er zuckt mit den Schultern. »Der menschliche Körper ist ein fein austariertes System, eine Störung zieht ein Ungleichgewicht bei etwas anderem nach sich – und schon …« Wieder sein Lächeln, eine Mischung aus Entschuldigung und Tapferkeit. »In Frankreich sind heute ungefähr 860 000 Menschen aufgrund neurologischer Erkrankungen pflegebedürftig. Bis 2020 werden etwa noch einmal 1,3 Millionen Menschen dazukommen.«
    »Wollen Sie mich damit trösten?«
    Unbeholfenes Grinsen. »Ich wollte nur sagen, dass Sie mit dem Problem nicht allein sind.«
    »Danke.« Man sollte ihn in einen Kurs schicken, wo er lernt, mit Angehörigen von Patienten umzugehen.
    »Medikamente können die Symptome ein wenig abschwächen«, erklärt er.
    Abschwächen, nicht heilen, die Krankheit nicht aufhalten. »Kann er allein leben?«, fragt sie und ahnt schon die Antwort.
    »Jemand muss sich um ihn kümmern. Mindestens zwei- bis dreimal am Tag nach ihm sehen. Außerdem muss er seinen Arm wieder trainieren. Er kann das meiste allein tun, langsam eben. Dann braucht er regelmäßige Bewegung, Mobilisierung, Physiotherapie. Jemand muss mit ihm spazieren gehen, sich mit ihm unterhalten. War er oft niedergeschlagen?«
    »In den letzten Jahren, ja, aber ich dachte, das hat mit dem Tod meiner Mutter zu tun.« Ihre Mutter, die verwöhnte Tochter aus gutem Hause, die mit ihren Eitelkeiten und Allürenunablässig seine Aufmerksamkeit forderte und ihn von Einladung zu Einladung schleppte. Hier eine exquisite Ausstellung, dort ein superbes Konzert, ein exzellentes Restaurant, ein formidables Theaterstück … Die Ausdrücke ihrer Mutter sind ihr bestens in Erinnerung.
    »Die Niedergeschlagenheit ist ein Symptom dieser Krankheit. Sie wird sich noch verstärken.«
    »Wir sind der Spielball unserer inneren Chemie, nicht wahr?« Sie versucht zu lächeln.
    Sein Seufzen tröstet sie irgendwie, dabei gibt er damit zu, dass er machtlos ist. Ärztliches Seufzen. »Madame Vernet, ich muss Ihnen leider sagen, dass die Krankheit weiter fortschreiten wird. Das Gesicht Ihres Vaters könnte infolge einer vermehrten Talkproduktion wächsern aussehen, er wird wahrscheinlich Kreislaufstörungen bekommen, durch Bewegungsstörungen des Magen-Darm-Trakts wird er wechselweise unter Durchfall und Verstopfung leiden, er wird unter Umständen gerade in der Nacht sehr stark schwitzen. Das Zittern wird sich verstärken, auch die Depression …«
    »Klingt nicht gerade so, als ob man sich auf die Zukunft freuen könnte.« Sie kann ein Seufzen nicht unterdrücken. »Und das alles wegen, wegen einem … einem irgendwie defekten Protein, ja?«
    »Einem falsch gefalteten, ja.« Er lächelt ihr zu, sieht auf die Uhr und macht eine Geste zur Tür hin. »Gehen Sie zu ihm – und kommen Sie bitte das nächste Mal früher. Hier ist ja schon lange Nachtruhe.«
    Sieben Uhr, Nachtruhe, natürlich. Camille bedankt sich, klopft an die Zimmertür und drückt die Klinke hinunter.
    Ihr Vater liegt im Bett am Fenster, das andere Bett ist noch unbenutzt. Er starrt in den ohne Ton laufenden Fernseher. Eine Polizeiserie. Die Neonröhre über dem Kopfende seines Bettes lässt ihn blasser und farbloser aussehen, als er wahrscheinlich in Wirklichkeit schon ist. Früher, als er noch einer derDirektoren bei AGF war, hat er immer darauf geachtet, trotz der vielen Arbeit ein bisschen Sonnenbräune abzubekommen.
    »Papa?«
    Erst als sie sich direkt vor das Bett stellt, bemerkt er sie und zieht mühsam mit der linken Hand den Kopfhörer vom Kopf, der seit ein paar Jahren fast kahl

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