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Die Saat - Ray, F: Saat

Die Saat - Ray, F: Saat

Titel: Die Saat - Ray, F: Saat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fran Ray
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Menschen sitzen, deren Leben vorgestern genauso verlaufen ist wie gestern und heute. Nur er ist außen vor, raus aus dem Spiel.
    Als er zu Hause unter der Dusche steht, bahnt sich mühsam ein Gedanke den Weg durch seine träge Hirnmasse: Die Handschuhe – vielleicht gehören sie Dr. Robert Smith? Er ist Arzt und Sylvies Kollege – und vielleicht mehr. Schwul, hat Sylvie geantwortet, als Ethan sie gleich nach der ersten Begegnung mit Robert gefragt hat, ob sie ihn attraktiv findet, und damit seine Frage nicht beantwortet. Er zieht sich an, trinkt in der Küche schnell einen Kaffee im Stehen und springt wieder in ein Taxi.

    Der weitläufige, imposante Klinikkomplex des Hôpital Saint-Louis zwischen Gare de l’Est und Place de la République, unmittelbar am Kanal St. Martin, erinnert Ethan jedes Mal an seinen schicksalhaften Parisbesuch vor acht Jahren. Dorthinhaben sie ihn mit seinem gebrochenen Bein gebracht, direkt auf Sylvies Station. Als sich die Gebäude immer deutlicher vor dem grauen Himmel abzeichnen, ist es, als müsse er sich auch hier von Sylvie und den vergangenen Jahren verabschieden. Hier hat alles angefangen – vielleicht hört hier auch alles auf –, mit der Entdeckung, dass Sylvie einen Liebhaber hatte.
    Vor dem Aufzug stößt Ethan beinahe mit einer Frau zusammen, die es gar nicht abwarten kann, ihr Handy einzuschalten. Früher hätte er die Situation genutzt, hätte sie länger angesehen, eine nette Bemerkung gemacht, ihr Lächeln oder ihre Verlegenheit genossen. Jetzt weicht er ihrem Blick aus, flieht zwischen den sich schließenden Türen hindurch in den Aufzug. Er fährt gleich hoch zur Inneren, auf Sylvies Station. Im Aufzug grüßen ihn zwei Schwestern, er grüßt zurück, weiß nicht, ob sie sich an ihn erinnern oder ob sie einfach nur freundlich sind. Die meisten Schwestern und Assistenzärzte kennt er nicht mehr. Vor Jahren ist er öfter auf die Station gekommen, um Sylvie abzuholen, oder er hat angerufen. Irgendwann dann nicht mehr, warum? Weil es ihm unpraktisch, überflüssig erschien? Weil Sylvie doch nie rechtzeitig fertig war?
    Der Geruch nach Medikamenten, Bettzeug, warm gehaltenem Essen und Kräutertee schlägt ihm entgegen, als sich die Aufzugtüren öffnen. Und fast zeitgleich sieht er Robert den Flur herunterkommen. Seine schlanke Gestalt, der geschmeidige, lässige Gang, die glänzende dunkle Haut – sogar im Gegenlicht strahlt die ganze Erscheinung Autorität und Würde aus.
    »Hallo Ethan, was willst du hier?« Robert lächelt ihn an. Strahlend weiße Zähne. Ethan fixiert Roberts Augen. Er weiß noch nichts, denkt er, dann fällt ihm ein, dass Sylvie diesen Montag womöglich ihren freien Tag hatte. Robert ist seit mehr als zwei Jahren Sylvies Kollege. Er betreut die eine Hälfte der Station, Sylvie die andere. Seine Eltern stammen ausdem Senegal, wenn Ethan sich recht erinnert. Er ist hier aufgewachsen, hat beste Examen und ist nicht verheiratet.
    »Sylvie ist tot«, schleudert Ethan ihm entgegen.
    »Was?«
    »Sie hat Tabletten genommen und sich die Pulsadern aufgeschnitten.«
    Robert sieht ihn einfach nur an, seine Gefühle zeigt er nur selten. Er bleibt höflich, distanziert. Und wenn es Robert ist? Sind es seine Handschuhe, die Ethan in der Manteltasche mit sich herumträgt?
    »Sylvie hatte einen Liebhaber.« Ethan wartet, wartet auf eine verräterische Geste, ein unsicheres Augenflackern, doch Robert hält seinem Blick stand.
    »Ich hab gleich eine Pause, Ethan, dann können wir unten in der Cafeteria reden. In einer Viertelstunde?« Die sonst so volle Stimme klingt auf einmal dünn.
    Ethan nickt und beobachtet, wie eine Krankenschwester Robert anlächelt, als er den Flur hinuntergeht.
    Robert. Dreiundvierzig. Gut aussehend. Sportlich. Intelligent. Schwul. Aber vielleicht hat Sylvie gelogen.
    Die Cafeteria befindet sich im Erdgeschoss. Er braucht tatsächlich etwas zu trinken. Wasser, Saft, irgendetwas nach dem Whiskykonsum. Bestimmt hat er jetzt noch eine Fahne. In der Halle, wo unablässig Patienten, Besucher, Ärzte, Pflegepersonal, Putzfrauen und Handwerker ein und aus gehen, ist es unangenehm kühl, und es zieht. Fünf Patienten stehen rauchend vor dem Eingang und halten sich dabei an den fahrbaren Ständern mit Infusions- und Drainageflaschen fest. Ethan nimmt aus der Kühltheke neben der Kuchenauslage einen Orangensaft. Er zahlt bei einem pickeligen Jungen und setzt sich an einen Platz, von dem aus man auf den schmalen Grünstreifen mit den kahlen Bäumen und

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