Die Saat - Ray, F: Saat
gemusterten Wollmantel hinter den Gittern des Aufzugs verschwinden. Hat sie keinen Freund, mit dem sie die Abende verbringt? Geht ihr Sylvies Tod tatsächlich so nahe? Oder was will sie? Er macht die Tür zu, ohne Antworten zu finden. Etwas verwirrt ihn an ihr, ihre Scheu, gepaart mit ihrer Spontaneität.
Im Wohnzimmer räumt er ihr Glas weg, stellt es in die Spülmaschine, realisiert, dass es Monate brauchen wird, bis sie voll ist und er sie anstellen kann, nimmt das Glas wieder heraus, stellt es in die Spüle. Die Putzfrau. Wann kommt sie? Er hat jedes Zeitgefühl verloren.
Im Schlafzimmer kann er unmöglich schlafen. Er hat die Couch im Gästezimmer aufgeklappt und zieht gerade Schuhe und Strümpfe aus, als ihm einfällt, dass er in Sylvies Notebook nachsehen könnte, ob sie mit diesem Professor Frost per Mail in Verbindung gestanden hat. Dass ihm das nicht früher eingefallen ist. Morgen. Nein, jetzt. Er steht wieder auf.Zieht einen Bademantel an, geht in Sylvies Arbeitszimmer. Kein Notebook auf dem Schreibtisch. Er zieht alle Schubladen auf. Nichts. Nur Büroutensilien, Batterien, Stifte, Krimskrams. Im Schrank, in dem die Ordner stehen, nichts. Er lässt die Schranktüren offen, eilt ins Wohnzimmer, sieht in jede Ecke, geht in die Küche. Aber was sollte ihr Notebook in der Küche? Es ist auch nicht in seinem Arbeitszimmer oder im Flur.
5
Mittwoch, 26. März
Wieder ein viel zu kühler Frühlingstag. Wenigstens kein Regen. Die Kinder waren sauer, als Irène Lejeune sie geweckt hat, warfen ihr stumm vor, dass sie am Sonntag nicht für sie da war und am Montag früh auch nicht. Sie hat versucht, sich wieder beliebt zu machen bei ihnen, hat ihnen versprochen, am Samstag mit ihnen Eis essen zu gehen. Dabei weiß sie doch, dass sie solche Versprechen meist nicht halten kann. Und Roland? Ihm hat sie gestern nur vorgehalten, dass er weder staubgesaugt noch die Fenster geputzt und auch keinen Orangensaft eingekauft hat. Soll ich denn alles allein machen?, hat sie ihm an den Kopf geworfen.
Sie ist hundemüde. Todmüde. Chronischer Schlafmangel. Chronisches Schuldgefühl. Sie sollte ihr Leben ändern. Noch immer keine Nachricht von der DGSE.
Sie wirft einen Blick auf die Uhr. Seit einer Stunde schreibt sie am Protokoll des gestrigen Tages und trinkt den dritten Kaffee. Sie ärgert sich über David, der immer noch nicht da ist. Hat sich gestern krankgemeldet. Warum hat man ihr keinen anderen Assistenten zugeteilt? Sie mochte ihn von Anfang an nicht. Verwöhnter Schnösel, der keine Ahnung von der Wirklichkeit hat. Was will so einer bei der Polizei?
Gerade als sie die leere Tasse abstellt, kommt David herein. Wenn man vom Teufel spricht, denkt sie noch, dann schießt sie einen Giftpfeil ab.
»Wieder gesund?«, fragt sie, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.
»Es tut mir leid.«
»Solange es Leute gibt, die Ihre Arbeit machen …« Sie sieht nur kurz von ihrem Aktenberg auf.
»Sind Sie sauer?«
Aus den Augenwinkeln sieht sie ihn zum Kühlschrank gehen. Er trägt ein knallrotes T-Shirt. Blutrot.
»He? Ich? Wie kommen Sie darauf, David?« Sie könnte ihm sagen, dass sie sich sogar mit Fieber, Halsentzündung und Grippe ins Büro geschleppt hat, weil sie weiß: Es gibt keinen, der Zeit hätte, ihre Arbeit zu erledigen, und während sie zu Hause im Bett liegt, läuft irgendein Verbrecher frei herum. Warum sagt sie ihm nicht genau das? Vielleicht braucht er es. Vielleicht hat er noch nie so gedacht.
Stattdessen schweigt sie. Er soll selbst herausfinden, warum sie wütend ist.
Die Dose zischt. Er geht ihr auf die Nerven. Es reicht schon, dass sie heute Morgen mit Roland Ärger hatte, weil sie sich beschwert hat, dass er seit Tagen schlechter Laune ist und dass sie jemanden braucht, der sie aufmuntert. Ihr Job ist schließlich deprimierend genug. Dann such dir einen Unterhalter, hat er nur geantwortet, sich umgedreht und weitergeschlafen.
»Ich war wirklich krank. Ich konnte kaum aus den Augen sehen wegen diesem Heuschnupfen. Gegen irgendwas bin ich total allergisch.«
»Ibrahim hat gestern bei Ihnen geklingelt, David. Niemand hat geöffnet.«
»Ich, ich war … Ich hab wahrscheinlich geschlafen.« Er weicht ihrem Blick aus.
»Wenn Sie sich entschlossen haben zu arbeiten, dann lesenSie diesen Bericht.« Sie wirft die Mappe mit dem Protokoll der Kollegen aus Méautis auf seinen Schreibtisch.
»Méautis, was hat das mit unserem Fall zu tun?«
»Dort wurde eine verstümmelte Leiche gefunden. Ein Mann namens
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