Die Saat
Boden unter den Füßen weggezogen. Und dass gerade Ansel überlebt hatte, weckte ein Glücksgefühl in ihr, das sie nur in religiösen Kategorien beschreiben konnte. Es war, als würden ihre gewissenhaft durchgeführten, aus ihrer Sicht lebensnotwendigen Rituale mit göttlichem Segen versehen.
Ansel seinerseits war ungemein erleichtert, wieder zu Hause zu sein. Ben und Haily versuchten gerade, auf ihn draufzuklettern; er hatte alle Mühe, sie von seinem schmerzenden Hals fernzuhalten. Die Spannung - seine Muskeln kamen ihm vor wie verdrehte Seile - war im Hals am stärksten, reichte aber über die Kiefergelenke bis hinauf zu den Ohren. Wenn man ein Seil verdreht, wird es kürzer, und genau so schien es sich mit seinen Muskeln zu verhalten. Er streckte den Hals ...
KNACK. KNACK. KNACK .
... und beinahe wäre er zusammengebrochen. Der Schmerz war kaum auszuhalten.
Später kam Ann-Marie genau in dem Moment in die Küche, als er ihre Klinikpackung Ibuprofen zurück in den Schrank über dem Herd stellte. Er nahm die empfohlene Tagesdosis auf einmal- und schaffte es kaum, die sechs Tabletten zu schlucken.
Aus ihren Augen war jede Freude verschwunden. »Was ist mit dir?«
»Nichts«, erwiderte er, obwohl er vor Schmerzen kaum den Kopf schütteln konnte. Doch es schien ihm das Beste, sie nicht zu beunruhigen. »Ich bin wohl noch etwas verspannt vom Flug.«
Ann-Marie stand in der Tür und zupfte beunruhigt an ihren Fingern. »Vielleicht hättest du besser im Krankenhaus bleiben sollen.«
»Und du wärst allein zurechtgekommen?«, fragte er heftiger als beabsichtigt.
KNACK.
»Aber was, wenn ... wenn du wieder
rein musst?
Und die diesmal wollen, dass du bleibst?«
Es war anstrengend, ihre Ängste auf Kosten seiner eigenen zu zerstreuen. »Ich kann es mir nicht erlauben, krankzufeiern. Du weißt selbst, wie knapp wir momentan bei Kasse sind.« Sie waren ein Einzelverdienerhaushalt in einem Land der Doppelverdiener. Und Ansel konnte keinen zweiten Job annehmen - wer würde dann die Einkäufe erledigen?
»Du hast Recht, ich ... ich würde ohne dich nicht klarkommen.« Sie sprachen eigentlich nie über ihre
Krankheit,
zumindest nannten sie es nicht so. »Ich brauche dich.
Wir
brauchen dich.«
Anseis Nicken war mehr eine Verbeugung, er neigte sich aus der Hüfte heraus, statt den Kopf zu bewegen. »Mein Gott. Wenn ich an all diese Menschen denke.« Er rief sich die Bilder seiner Sitznachbarn auf dem Flug in Erinnerung: zwei Reihen vor ihm eine Familie mit drei Kindern; ein älteres Paar auf der anderen Gangseite, das die meiste Zeit schlief; eine wasserstoffblonde Stewardess, die ihm Cola light über den Schoß kippte ... » Warum ausgerechnet ich? Gibt es einen Grund, warum gerade ich überlebt habe?«
»Es
gibt
einen Grund, ja.« Ann-Marie drückte die Hände flach an die Brust. »Mich.«
Kurz darauf brachte Ansel die Hunde zurück in den Garten. Wegen dieses Gartens hatten sie damals das Haus gekauft: jede Menge Platz für Kinder und Hunde. Pap und Gertie waren schon bei Ansel gewesen, bevor er Ann-Marie kennengelernt hatte, und sie hatte sich in die bei den mindestens genauso sehr verliebt wie in ihn. Die Hunde erwiderten diese Liebe bedingungslos, genau wie Ansel und die Kinder, auch wenn Benjy, der Ältere, allmählich anfing, Ann-Maries exzentrisches Verhalten infrage zu stellen. Vor allem dann, wenn dieses Verhalten in Konflikt mit dem Terminplan des Achtjährigen geriet, der nur aus Baseballtraining und Verabredungen mit seinen Spielkameraden zu bestehen schien. Ansel spürte, wie Ann-Marie bereits auf Distanz zu ihrem Sohn ging. Pap und Gertie dagegen würden niemals an ihr zweifeln, zumindest nicht, solange sie ihnen reichlich zu fressen gab. Er machte sich wegen der Kinder Sorgen, befürchtete, dass sie sich schon bald von ihrer Mutter entfremden und nie wirklich verstehen würden, warum sie die Hunde mehr zu lieben schien als sie.
In der Mitte des alten Gartenschuppens hatten sie einen Metallpfahl durch die Bodendielen getrieben und zwei Ketten daran befestigt. Vor einigen Monaten war Gertie weggelaufen, und als sie zurückgekommen war, hatte sie überall Spuren von Stockschlägen; daher ketteten sie die Hunde nun zu ihrem eigenen Schutz über Nacht an.
Behutsam stellte Ansel Futter und Wasser ab - wobei er den Hals möglichst gerade hielt, was die Schmerzen minderte - und streichelte die Hunde, während sie fraßen. Nachdem er sie angekettet hatte, ging er hinaus, schloss die Schuppentür und blieb
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