Die Saat
Ihr Herz aufgehört, selbstständig zu schlagen, und es sieht so aus, als würde der Tumor nun das Organ steuern. Dasselbe bei Ihren Lungen. Der Tumor breitet sich in beiden Lungenflügeln aus und ... absorbiert das Gewebe, wandelt es um. Als ob ... als ob Sie sich mitten in einer Metamorphose befänden. Klinisch könnte man Sie bereits als tot bezeichnen. Doch der Tumor erhält Sie am Leben.«
Bolivar saß weiter da und starrte in den Raum. Sein Hals zuckte leicht, als würde er versuchen, Worte zu formulieren.
»Ich werde Sie unverzüglich ins Sloan-Kettering einweisen. Das ist die beste Krebsklinik des Landes. Wir können das unter einem falschen Namen und mit einer fiktiven Sozialversicherungsnummer machen. Mr. Elijah soll Sie sofort dorthin ... «
Ein Stöhnen drang aus Bolivars Brustbereich, das unmissverständlich »Nein« bedeutete. Der Musiker legte die Hände auf die Armlehnen des Rollstuhls und stemmte sich hoch. Er schwankte leicht, brauchte einen Moment, um sein Gleichgewicht zu finden, dann zupfte er mit den wunden Händen am Gürtel des Morgenmantels. Der Knoten löste sich, und sein schlaffer Penis wurde sichtbar - schwarz, eingeschrumpelt. Eine kranke Frucht, die jeden Moment von einem sterbenden Baum fallen konnte.
Bronxville
Immer noch verunsichert durch die Ereignisse der vergangenen vierundzwanzig Stunden, gab Neeva, das Kindermädchen der Familie Luss, die Kinder in die Obhut ihres Neffen Emile und ließ sich von ihrer Tochter Sebastiane zurück nach Bronxville fahren. Sie hatte Keene und seiner achtjährigen Schwester Audrey zum Mittagessen die Cornflakes und das Obst gegeben, das sie aus dem Haus der Lusses mitgenommen hatte, als sie geflüchtet waren.
Jetzt kam sie zurück, um noch andere Dinge zu holen. Die bei den Kinder mochten ihre haitianische Küche nicht, und was weitaus wichtiger war - Neeva hatte das Pulmicort vergessen, Keenes Asthma-Medizin. Der Junge keuchte schon ziemlich.
Als sie sich dem Haus näherten, sahen sie Mrs. Guilds grünes Auto in der Einfahrt der Lusses stehen. Neeva wies Sebastiane an, im Wagen auf sie zu warten, stieg aus, zog sich den Unterrock unter dem Kleid gerade und ging mit dem Schlüssel in der Hand zum Seiteneingang. Die Tür ließ sich problemlos öffnen, die Alarmanlage war nicht aktiviert.
Durch den Hauswirtschaftsraum mit der eingebauten Garderobe und den beheizbaren Bodenfliesen ging sie in die Küche. Es sah nicht so aus, als hätte sie jemand betreten, seit Neeva das Haus mit den Kindern verlassen hatte. Reglos blieb sie in der Tür stehen, lauschte mit äußerster Konzentration, hielt den Atem so lange an, wie es ihr möglich war. Es war nichts zu hören.
»Hallo?«, rief sie einige Male. Würde Mrs. Guild, zu der sie eine äußerst reservierte Beziehung pflegte - die Haushälterin war eine verkappte Rassistin, argwöhnte Neeva -, wohl antworten? Würde Joan, als Mutter frei von jeglichen Mutterinstinkten und trotz all ihrer Erfolge als Rechtsanwältin selbst noch ein Kind, reagieren?
Kein Laut.
Neeva ging zur Kücheninsel in der Raummitte und legte ihre Handtasche behutsam zwischen Spüle und Herd ab. Sie öffnete den Vorratsschrank, schnappte sich eine Einkaufstüte und füllte sie mit Crackern, Säften und Popcorn. Sie kam sich wie eine Diebin vor. Immer wieder hielt sie kurz inne und lauschte.
Nachdem sie den Kühlschrank um Käsestäbchen und Joghurtdrinks erleichtert hatte, fiel ihr Blick auf Mr. Luss' Telefonnummer, die auf einem Blatt neben dem Küchenanschluss an der Wand klebte. Sollte sie ihn anrufen? Aber was sollte sie ihm sagen?
Ihre Frau ist krank
-
deshalb habe ich Ihre Kinder mitgenommen.
Nein. Sie wechselte ohnehin nur selten ein Wort mit ihm.
In diesem Haus war etwas Böses, und Neevas Verantwortung - als Angestellte wie als Mutter - galt einzig und allein der Sicherheit der Kinder.
Sie sah in den Schrank über dem Weinregal, doch die Schachtel mit Pulmicort war leer, wie sie befürchtet hatte. Sie musste in den Keller, wo die Medizinvorräte lagerten.
Am Absatz der gewundenen, mit Teppichboden ausgelegten Treppe verharrte sie und fischte ihr schwarzes Emailkreuz aus der Handtasche. Nur für alle Fälle! Dann ging sie langsam die Stufen hinunter, knipste jedes Licht auf dem Weg an - im Keller war es für diese Tageszeit ungewöhnlich dunkel - und blieb, unten angekommen, erneut stehen.
Familie Luss nannte es »Keller«, aber eigentlich war es ein weiteres Wohngeschoss. Es gab dort ein Heimkino
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