Die Saat
Kette ab, zog sie durch den Metallgriff und ließ sie ins Gras fallen.
Die Tür öffnete sich, schwang von allein einige Zentimeter weit auf. Bis auf das spärliche Licht, das durch die Fenster drang, war es dunkel im Schuppen.
»Ansel?«
Sie sah einen sich bewegenden Schatten.
»Ansel ... du musst nachts etwas leiser sein. Mr. Otish von gegenüber hat die Polizei angerufen. Er dachte, es wären die Hunde ... « Sie bekam feuchte Augen, fürchtete, erneut in Tränen auszubrechen. »Ich ... fast hätte ich ihm von dir erzählt. Ich weiß nicht, was ich tun soll, Ansel. Ich fühle mich so verloren. Bitte ... ich brauche dich doch ... «
Ein furchtbarer Schrei ertönte. Und dann war er da. Ansel.
Ihr Mann. Er stürmte auf die Tür zu, stürmte auf
sie
zu ... bis ihn die Kette um seinen Hals zurückriss. Sein Brüllen erstickte.
Die Kette, die er sich selbst angelegt hatte.
Ann-Marie sah ihn im Dreck kauern, nackt bis auf das Hundehalsband um den sich grotesk spannenden Hals, den schwarzen Mund weit geöffnet. Er hatte sich fast alle Haare ausgerissen, und sein bleicher, blaugeäderter Körper war mit Schmutz überzogen, als hätte er in der Erde gewühlt, sich sein eigenes Grab gegraben. Er fletschte die blutverschmierten Zähne, verdrehte die Augen, wich vor dem Licht zurück.
Ein Dämon.
Mit zitternden Händen zog Ann-Marie die Kette wieder durch den Griff, befestigte das Schloss und floh ins Haus.
Vestry Street, Tribeca
Eine Limousine brachte Gabriel Bolivar zur Praxis von Dr. Ronald Box, dem Lieblingsarzt zahlreicher in New York beheimateter Prominenter aus Film, Fernsehen und Musikbusiness. Box war kein Dr. Feelgood, kein Rezepteausstellautomat - obwohl er, was das anging, durchaus großzügig sein konnte -, sondern ausgebildeter Internist und kannte sich mit Drogenentzug ebenso aus wie mit der Behandlung von Geschlechtskrankheiten, Hepatitis C und anderen, mit dem Stardasein zusammenhängenden Malaisen.
Der Wagen parkte in der Tiefgarage, und Bolivar fuhr im Rollstuhl mit dem Aufzug nach oben, bekleidet lediglich mit einem schwarzen Morgenrock, zusammengesunken wie ein alter Mann. Sein langes schwarzes Haar war staubtrocken und fiel in Büscheln aus, sein Hals so geschwollen und wund, dass er kaum einen Ton herausbrachte.
Box empfing ihn sofort. Er hatte zuvor per E-Mail einige Röntgenaufnahmen von der Klinik erhalten, zusammen mit ein paar entschuldigenden Zeilen des zuständigen Arztes, der nur die Ergebnisse gesehen hatte und nicht den Patienten selbst; er versprach eine Reparatur der Geräte und schlug eine weitere Untersuchung in ein oder zwei Tagen vor. Nach einem Blick auf Bolivar glaubte Box allerdings nicht mehr, dass die Geräte defekt waren.
Er horchte den Musiker mit einem Stethoskop ab, lauschte auf die Herztöne, bat ihn, tief Luft zu holen. Als er einen Blick in den Hals seines Patienten werfen wollte, hob dieser abwehrend die Hände, wobei seine schwarz-roten Augen vor Schmerz regelrecht zu glühen schienen. »Wie lange haben Sie diese Kontaktlinsen schon drin?«, fragte Box.
Bolivar schüttelte den Kopf, und sein Mund kräuselte sich zu einem rauen Knurren.
Box blickte zu dem ehemaligen Footballspieler in Chauffeursuniform hinüber, der neben der Tür stand. Bolivars Leibwächter Elijah, eins achtundneunzig groß, zweihundertvierzig Pfund. Der Mann wirkte äußerst nervös, und auch Box bekam es allmählich mit der Angst zu tun. Er untersuchte Bolivars Hände, die alt und wund wirkten und trotzdem nicht gebrechlich. Dann versuchte er, die Lymphknoten am Unterkiefer abzutasten, was jedoch zu schmerzhaft zu sein schien - Bolivar wand sich wie ein kleines Kind.
Die Klinik hatte eine Körpertemperatur von knapp einundfünfzig Grad gemessen - völlig unmöglich bei einem menschlichen Organismus. Doch jetzt, als Box neben Bolivar stand, spürte er die Hitze, die dieser ausstrahlte, und zweifelte auch diesen Messwert nicht mehr an.
Box trat einen Schritt zurück. »Ich ... ich weiß nicht, wie ich es Ihnen sagen soll, Gabriel. Es ist unglaublich. Ihr ganzer Körper scheint voll bösartiger Tumore zu sein. Ich sehe hier Karzinome, Sarkome und Lymphome, und alle sind metastasiert. Ich muss natürlich verschiedene Fachleute zurate ziehen, aber meines Wissens gibt es dafür keinen medizinischen Präzedenzfall. «
Bolivar saß einfach nur da und hörte seinem Arzt zu, einen Ausdruck reinen Elends in den verfärbten Augen.
»Ich weiß nicht, womit wir es hier zu tun haben. Offenbar hat
Weitere Kostenlose Bücher