Die Saat
du so was schon mal gehört?«
Vasiliy schüttelte den Kopf. Tatsächlich gab es in jedem Gebäude Manhattans Ratten - egal, was die Vermieter sagten oder die Mieter sich einredeten -, nur machten sie nicht auf sich aufmerksam, vor allem nicht am helllichten Tag.
Von Rattenangriffen waren vor allem Kinder betroffen; meistens bissen die Biester sie in Mundnähe, denn dort riecht es nach Nahrung.
Rattus norvegicus,
die Wanderratte, sowie die gewöhnliche Stadtratte besaßen einen ausgeprägten Geruchs- und Tastsinn, und ihre langen, scharfen Schneidezähne konnten mühelos Aluminium, Kupfer, Blei und Eisen durchtrennen, weshalb sie für ein Viertel aller defekten Stromkabel in der Stadt verantwortlich waren und wahrscheinlich auch hinter einem hohen Prozentsatz der ungeklärten Brände steckten. In der Härte waren ihre Zähne vergleichbar mit Stahl, die Kiefer, die von der Struktur her denen von Alligatoren ähnelten, entwickelten eine Beißkraft von mehreren tausend Pfund. Sie konnten sich sogar durch Beton und Stein fressen.
Vasiliy war ein Spezialist für Ratten. »Hat sie die Ratte gesehen?«, fragte er.
»Sie wusste nicht, was es war. Sie hat geschrien und um sich geschlagen, dann ist sie weggerannt. Erst in der Notaufnahme hat man ihnen gesagt, dass es wohl 'ne Ratte war.«
Vasiliy trat ans Fenster, das leicht offen stand. Er drückte es weiter auf und blickte drei Stockwerke tief auf eine schmale Kopfsteinpflastergasse hinunter. Die Feuerleiter befand sich drei, dreieinhalb Meter vom Fenster entfernt, die jahrhundertealte Backsteinfassade war ungleichmäßig und zerklüftet. Die Menschen stellten sich Ratten oft als plump und unbeholfen vor, doch in Wirklichkeit bewegten sie sich mit der Schnelligkeit und Gewandtheit von Eichhörnchen - vor allem, wenn sie von Hunger oder Angst getrieben wurden.
Vasiliy rückte das Bett von der Wand und zog das Laken ab, schob ein Puppenhaus, eine Kommode und ein Bücherregal zur Seite und spähte dahinter. Allerdings rechnete er nicht damit, die Ratte tatsächlich noch im Schlafzimmer zu finden. Er schloss lediglich alle naheliegenden Verstecke aus.
Den Karren hinter sich herziehend, kehrte er in den Flur zurück. Ratten konnten nicht sehr gut sehen und bewegten sich hauptsächlich nach Gefühl. Ihre Orientierung und ihre Schnelligkeit basierten zu einem großen Teil auf Übung, da sie immer wieder die gleichen Routen einschlugen und sich nur selten weiter als zwanzig Meter von ihrem Nest entfernten. Einer fremden Umgebung misstrauten sie grundsätzlich. Diese Ratte hatte vermutlich die Tür entdeckt, war um die Ecke gebogen und hatte sich dann dicht an der Wand auf der rechten Seite gehalten. Die nächste offene Tür führte in das Badezimmer des Mädchens. Vasiliy suchte auch diesen Raum nach möglichen Verstecken ab: eine erdbeerförmige Badematte, ein blass-rosafarbener Duschvorhang, ein Korb voller Badesalz und Spielzeug. Offenbar alles in Ordnung.
Bill sah ihm eine Weile zu, dann entschloss er sich, zu Mutter und Tochter zurückzugehen. Kurz darauf hörte er aus dem Bad ein lautes Klirren - das Geräusch von Flaschen, die in eine Badewanne fallen -, ein Grunzen und Vasiliy, der Schimpfworte ausstieß.
Mutter und Tochter sahen völlig entgeistert drein. Bill der seinen Kaugummi verschluckt hatte - hob die Hand, um sie zu beruhigen, und lief den Flur hinunter.
Vasiliy öffnete die Badezimmertür. Er trug lange, kevlarverstärkte Schutzhandschuhe und hielt einen Sack in der Hand, in dem etwas zappelte. Etwas Großes.
Er reichte Bill den Sack, dem nichts anderes übrig blieb, als ihn entgegenzunehmen, wollte er ihn nicht auf den Boden fallen und die Ratte entkommen lassen. Er hoffte nur, dass der Sack so robust war, wie er aussah, denn die Ratte darin kämpfte mit dem Mut der Verzweiflung.
Vasiliy öffnete unterdessen ruhig - für Bills Geschmack viel zu langsam - seinen Koffer und holte ein versiegeltes Päckchen heraus, in dem sich ein mit Halothan getränktes Schwämmchen befand. Dann nahm er den Sack wieder an sich und öffnete ihn gerade lange genug, um das Narkotikum hineinzuwerfen. Zunächst kämpfte die Ratte genauso heftig weiter, doch nach und nach wurde sie müder. Vasiliy schüttelte den Sack, um die Sache zu beschleunigen.
Als das Zappeln schließlich aufgehört hatte, wartete er noch einige Minuten, dann griff er in den Sack und zog die Ratte am Schwanz heraus. Sie war sediert, aber nicht bewusstlos. Die scharfen Krallen an den Vorderpfoten hackten
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