Die Saat
Löcher in die Luft, die Kiefer schnappten, die glänzenden schwarzen Augen waren weit geöffnet. Die Ratte hatte eine beachtliche Größe, an die zwanzig Zentimeter lang, und der Schwanz maß weitere zwanzig. Das borstige Fell war am Rücken dunkelgrau und auf der Bauchseite schmutzig weiß gefärbt. Das war kein entlaufenes Haustier, sondern eine wilde Stadtratte.
Bill war etliche Schritte zurückgewichen. Obwohl er in seinem Leben schon viele Ratten gesehen hatte, konnte er sich nicht an ihren Anblick gewöhnen.
"Sie ist trächtig«, sagte Vasiliy. Die Tragezeit von Ratten dauerte gerade mal einundzwanzig Tage, und der Wurf konnte bis zu zwanzig Junge umfassen. Ein gesundes Weibchen konnte also jedes Jahr zweihundertfünfzig Junge zur Welt bringen - wobei die Hälfte davon wiederum zu paarungsbereiten Weibchen heranwuchs. »Soll ich sie fürs Labor zur Ader lassen?«
Bill schüttelte den Kopf. Er sah so angewidert drein, als hätte Vasiliy ihm vorgeschlagen, sie zu essen. » Das Mädchen hat im Krankenhaus alle Impfungen erhalten. Sieh dich mal um, Vas. Ich meine, das hier ist ja nicht« - er senkte die Stimme - »irgendeine Bruchbude in Bushwick, wenn du verstehst, was ich meine.«
Vasiliy verstand. Sehr gut sogar. Immerhin hatten seine Eltern zunächst in Bushwick gelebt, nachdem sie nach Amerika gekommen waren. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts hatte das Viertel immer wieder Einwanderungswellen erlebt: Deutsche, Engländer, Iren, Russen, Polen; jetzt waren Südamerikaner, Inder und Koreaner an der Reihe. Und Vasiliy verbrachte viel Zeit in diesem und anderen armen Vierteln New Yorks. Er wusste von Familien, die jede Nacht mithilfe von Couch polstern, Büchern und Möbelstücken versuchten, ihre Wohnung zu verbarrikadieren, um die Ratten draußen zu halten.
Dieser Angriff jedoch war sehr ungewöhnlich, das musste er zugeben. Er hatte bei Tageslicht stattgefunden - Merkwürdigkeit Nummer eins. Und üblicherweise wurden nur die schwächsten Ratten aus der Kolonie verdrängt, doch das hier war ein starkes, gesundes Weibchen - Merkwürdigkeit Nummer zwei. Ratten lebten mit den Menschen in einem empfindlichen Gleichgewicht. Sie nutzten die Schwachstellen der Zivilisation, ernährten sich von ihrem Abfall, lauerten unsichtbar hinter Wänden oder unter Holzdielen. Aber in der Regel blieben sie, wo sie waren - wie der Mensch neigten auch Ratten nicht dazu, unnötige Risiken einzugehen: Man musste sie schon aktiv aus dem Untergrund vertreiben.
»Soll ich sie nach Flöhen absuchen?«, fragte Vasiliy. »Himmel, nein! Steck das Vieh in den Sack zurück und lass es verschwinden. Und zeig's ja nicht dem Mädchen. Sie ist schon traumatisiert genug.«
Vasiliy zog eine Plastiktüte aus seinem Koffer und steckte die Ratte zusammen mit einem weiteren in Halothan getränkten Schwamm hinein. Diesmal hatte er eine tödliche Dosis gewählt.
Er stopfte die Tüte in den Sack und dann setzte er seine Arbeit in der Küche fort. Rückte Herd und Geschirrspüler zur Seite. Kontrollierte die Rohrleitungen unter der Spüle. Er konnte weder Exkremente noch Löcher entdecken, legte aber dennoch einen kleinen Köder hinter den Schränken aus. Das machte er immer - ohne den Bewohnern etwas davon zu sagen. Die Leute wurden ja immer gleich nervös, wenn es um Gift ging, ganz besonders junge Eltern. Aber es war nun mal eine Tatsache, dass in jedem Gebäude und auf jeder Straße Manhattans Rattengift lag; die grünen Kügelchen, die Trockenfutter für Hunde ähnelten, waren ein sicheres Indiz dafür, dass in der Nähe Ratten gesichtet worden waren.
Danach gingen sie in den Keller. Alles sauber und ordentlich, nirgendwo Müll oder die Sorte von Unrat, die aufgrund ihrer Konsistenz für den Nestbau geeignet war. Vasiliy suchte den Raum ab, schnupperte. Er hatte eine gute Nase für Ratten - so wie Ratten eine gute Nase für Menschen hatten. Zu Bills Unbehagen schaltete er das Deckenlicht aus und knipste stattdessen die Taschenlampe an, die am Gürtel seiner hellblauen Latzhose hing und ein violettes Licht abgab. Urin von Nagetieren leuchtet unter Schwarzlicht indigoblau, doch hier war nichts zu erkennen. Vasiliy legte weiteres Gift aus und stellte, nur zur Vorsicht, Fallen in den Ecken auf.
Als sie wieder oben waren, bedankte Bill sich bei ihm, dann verabschiedeten sie sich. Vasiliy war immer noch ein wenig verwirrt. Nachdem er die Ausrüstung und die tote Ratte im Laderaum des Lieferwagens verstaut hatte, zündete er sich eine dominikanische
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