Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
wollte ihnen so bald wie möglich folgen. Vorerst blieben ihm aber noch ein paar Augenblicke zur Durchführung des gräflichen Befehls. Er rannte zum Stall, wo die Leute noch immer eimerweise Wasser in die Flammen gossen. »Kümmert euch nicht mehr um das Feuer!«, schrie er. »Die Burg wird angegriffen! Bringt eure Kinder in den Wohnturm!«
Überall war Rauch. Die Augen tränten ihm, und er konnte nicht mehr richtig sehen. Nahebei standen ein paar Leute und schauten tatenlos zu, wie die Flammen den Stall verzehrten. Tom wiederholte seine Botschaft und sagte auch den Stallknechten Bescheid, die die freigelassenen Pferde wieder einzufangen versuchten. Ellen war nirgends zu sehen.
Der Rauch stieg ihm in die Lungen. Tom musste husten. Schwer atmend rannte er zur Brücke, die in den oberen Burghof führte. Dort blieb er stehen, holte tief Luft und blickte sich um. Von allen Seiten strömten jetzt die Menschen zusammen und liefen auf die Brücke zu. Er war sich inzwischen fast sicher, dass Ellen und Jack bereits im Wohnturm Zuflucht gesucht hatten, aber allein die Vorstellung, er könne sie übersehen haben, war kaum erträglich. Am unteren Torhaus standen die Ritter des Grafen dicht an dicht. Ein erbitterter Kampf Mann gegen Mann war entbrannt. Auf einmal tauchte Graf Bartholomäus mit tränenden Augen und blutverschmiertem Schwert neben Tom aus dem Rauch auf und rief ihm zu: »Bringt Euch in Sicherheit!« In diesem Augenblick gelang den Angreifern am unteren Torhaus der Durchbruch. Die Verteidiger wichen zurück. Tom rannte über die Brücke.
Am zweiten Torhaus standen fünfzehn oder zwanzig Männer bereit, um den oberen Burghof zu verteidigen. Sie bildeten für Tom und den Grafen eine Gasse. Als sich die Reihen hinter ihm wieder schlossen, hörte Tom Hufgetrappel auf den Holzbohlen der Brücke. Die Lage der Verteidiger war aussichtslos. Hundert blutrünstige Bewaffnete stürmten auf sie ein … und damit auch auf Ellen und die Kinder.
Sie liefen die Treppe zum Wohnturm hinauf. Auf halber Höhe drehte Tom sich um. Die Verteidiger wurden von den Angreifern praktisch überrannt. Mit großen Schritten nahm er die letzten Stufen und rannte vor zum großen Saal – nur, um dort feststellen zu müssen, dass man ihnen auch hier zuvorgekommen war.
Die Vorhut der Feinde hatte den Wohnturm besetzt und alle Menschen, die hier Zuflucht gesucht hatten, als Geiseln genommen. Überall lagen tote und verwundete Ritter, überall war Blut. Und gleich am Eingang des Saals standen vier finster dreinblickende Männer in Kettenhemden. Entsetzt erkannte Tom ihren Anführer – William Hamleigh.
Tom war vor Schreck wie gelähmt. In Williams Augen funkelte die Mordlust. Schon fürchtete Tom, William wolle sich auf ihn stürzen und ihn umbringen, doch da wurde er von zwei Spießgesellen Williams am Arm gepackt, in die Halle gezogen und aus dem Weg gezerrt.
Die Hamleighs steckten also hinter dem Überfall auf die Burg des Grafen Bartholomäus. Aber warum?
Das gräfliche Gesinde, die Frauen und Kinder drängten sich an der gegenüberliegenden Wand des Saals zusammen. Mit grenzenloser Erleichterung stellte Tom fest, dass sich auch Alfred, Martha, Ellen und Jack unter den Gefangenen befanden. Die Angst stand ihnen ins Gesicht geschrieben, doch waren sie allem Anschein nach unverletzt.
Am Saaleingang kam es zu einem Tumult: Graf Bartholomäus und zwei seiner Ritter stürmten herein, wurden jedoch schon an der Tür von William Hamleighs Leuten abgefangen. Einer der Leibwächter wurde sofort niedergestochen. Der zweite verteidigte seinen Herrn mit erhobenem Schwert. Als kurz darauf noch weitere Ritter des Grafen eintrafen und in den erbitterten Nahkampf eingriffen, sah es vorübergehend so aus, als gerieten William und seine Leute in die Defensive. Dann aber mussten sich die Ritter des Grafen plötzlich nach zwei Seiten verteidigen: Die Feinde hatten den Burghof erobert, und die ersten erstürmten den Wohnturm.
Auf einmal rief eine machtvolle Stimme: »Halt!«
Die Kampfhandlungen wurden eingestellt, die Ritter beider Lager nahmen eine Verteidigungsstellung ein.
»Bartholomäus von Shiring!«, rief die Stimme. »Ergebt Ihr Euch?«
Tom sah, wie der Graf sich umdrehte und zur Tür blickte. Die Ritter traten zur Seite. »Hamleigh«, murmelte der Graf ungläubig. Dann antwortete er klar und deutlich: »Werdet Ihr meine Familie und meine Dienerschaft unbehelligt lassen?«
»Ja.«
»Schwört es.«
»Ja, wenn Ihr Euch ergebt. Ich schwöre es
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