Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
Ellen nahm ihren Sohn, Tom seine Tochter bei der Hand. Alfred hielt sich dicht bei ihnen. Alle trugen sie ihre Winterumhänge. Außer ihren Essmessern besaßen sie jetzt nur noch das, was sie am Leib trugen. Mit den anderen Entlassenen gingen sie die Treppe hinunter, überquerten die Brücke zum unteren Burghof, stolperten über die nutzlos am Boden liegenden Tore und verließen, ohne noch einmal innezuhalten, das umwallte Gelände. Auf dem freien Feld hinter dem Burggraben zerriss die Spannung wie eine Bogensehne und löste ihre Zungen. Aufgeregt unterhielten sie sich über den Überfall und die grauenvollen Erlebnisse der letzten Stunden. Teilnahmslos hörte Jack zu, wie jeder seine Tapferkeit rühmte. Er selbst war nicht tapfer gewesen – er war bloß davongelaufen.
Und stimmte das überhaupt? Er, Jack, hatte den Eindruck, die einzig wahrhaft Tapfere sei Aliena gewesen. Wie war es denn, als sie in den Wohnturm kamen und feststellen mussten, dass die erhoffte Zuflucht zur Falle geworden war? Da hatte Aliena sofort das Heft in die Hand genommen und dafür gesorgt, dass Dienerschaft und Kinder ruhig blieben und sich von den Kämpfenden fernhielten. Sie hatte die Ritter der Hamleighs angeschrien, wenn diese ruppig mit den Gefangenen umgingen oder ihre Schwerter gegen Frauen und unbewaffnete Männer erhoben. Sie hatte gehandelt, als sei sie selber unverletzlich.
Zärtlich fuhr ihm seine Mutter über den Schopf. »Woran denkst du?«, wollte sie wissen.
»Ich frage mich, was mit der Prinzessin geschehen wird.«
Ellen wusste sofort, wer gemeint war. »Mit Lady Aliena«, sagte sie.
»Sie ist wie eine Prinzessin im Gedicht. Sie lebt in einer Burg. Nur die Ritter sind nicht so heldenhaft wie in der Dichtung.«
»Da hast du allerdings recht«, stimmte seine Mutter ihm zu. Ihre Stimme klang hart.
»Was wird mit ihr geschehen?«
Ellen schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, Jack.«
»Ihre Mutter ist tot.«
»Dann kommen schwere Zeiten auf sie zu.«
»Das hab ich mir schon gedacht.« Jack machte eine Pause. »Sie hat mich ausgelacht, weil ich nicht wusste, wie das mit den Vätern ist. Aber ich hab sie trotzdem gemocht.«
Seine Mutter legte den Arm um ihn. »Es tut mir leid, dass ich es dir nicht rechtzeitig erklärt habe«, sagte sie.
Zum Zeichen, dass er ihre Entschuldigung akzeptierte, berührte er ihre Hand. Wortlos setzten sie ihren Weg fort. Die Schar der Vertriebenen wurde langsam kleiner; immer wieder bog der eine oder andere oder auch eine ganze Familie vom Weg ab und strebte querfeldein auf das einsame Haus eines Verwandten oder Bekannten zu, um ein Frühstück zu erbitten und darüber nachzudenken, was als Nächstes geschehen sollte. An der Kreuzung zerfielen sie in drei Gruppen: Die einen wandten sich nach Süden, die anderen nach Norden, und der Rest ging geradeaus weiter, Richtung Shiring. Ellen löste sich von Jack und fasste Tom am Arm. Tom blieb stehen. »Wo sollen wir hin?«, fragte sie.
Die Frage schien ihn zu überraschen; es war, als setzte er voraus, dass alle ihm folgten, ohne Fragen zu stellen. Jack kannte diese überraschte Miene schon; sie zeigte sich recht oft, wenn Mutter Tom ansprach. Vielleicht hat ihm seine erste Frau solche Fragen nie gestellt, dachte der Junge.
»Wir gehen nach Kingsbridge«, sagte Tom, »zum Kloster.«
»Kingsbridge?«, wiederholte Ellen erschrocken.
Jack konnte sich ihre Aufregung nicht erklären, und Tom ging nicht darauf ein. »Sie haben dort, wie mir gestern zu Ohren kam, einen neuen Prior«, erklärte er. »Ein neuer Mann in diesem Amt hat oft große Pläne. Kann sein, dass er die Kirche renovieren oder umbauen will.«
»Ist der alte Prior gestorben?«
»Ja.«
Die Antwort schien Ellen ein wenig zu beruhigen. Mutter muss den alten Prior gekannt haben, dachte Jack. Und gemocht hat sie ihn bestimmt nicht …
Jetzt war auch Tom der besorgte Unterton in ihrer Stimme aufgefallen. »Stimmt etwas nicht mit Kingsbridge?«, fragte er.
»Ich war schon mal dort«, antwortete sie. »Es ist weiter als eine Tagesreise von hier.«
Jack wusste, dass der weite Weg ihr nichts ausmachte. Tom indessen nahm sie beim Wort. »Ein bisschen weiter, ja. Bis morgen Mittag können wir es aber schaffen.«
»Einverstanden.«
Tom ging weiter.
Kurze Zeit später bekam Jack auf einmal Bauchschmerzen. Eine Weile lang überlegte er, woran es liegen mochte. Auf der Burg hatte ihm niemand etwas getan, und auch Alfred hatte ihn schon seit zwei Tagen nicht mehr in den Magen geboxt.
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