Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
kamen sie durch ein weiteres Tor, und mit einem Mal war von dem rastlosen Gewimmel in der Stadt kaum noch etwas zu spüren. Statt dessen herrschte ein anderes Gedränge: die hektische, aber geordnete Vielfalt einer großen Baustelle.
Sie befanden sich jetzt auf dem eingefriedeten Gelände der Kathedrale, welches das gesamte Nordwestviertel der kreisrund angelegten Stadt einnahm. Tom blieb einen Augenblick stehen, um das Bild in sich aufzunehmen. Alles, was er hier hören, sehen, schmecken konnte, erwärmte sein Herz wie ein sonniger Sommertag. Dem eintreffenden Ochsenkarren mit seiner Steinfracht kamen zwei leere Karren entgegen, die gerade die Baustelle verließen. In den Bauhütten an der Kirchenmauer waren die Steinmetzen an der Arbeit; mit Eisenmeißeln und großen Holzhämmern behauten sie gezielt die schweren Blöcke, sodass sie zu Plinthen, Säulen, Kapitellen, Schäften, Strebepfeilern, Bögen, Fenstern, Schwellen, Fialen und Brüstungen zusammengefügt werden konnten. In der Mitte des Platzes – in sicherem Abstand zu allen anderen Gebäuden – stand die Schmiede. Durch die offenstehende Tür sah man den Feuerschein, und der helle Klang des Hammers auf dem Amboss hallte weithin über das Gelände. Da sich die Werkzeuge der Steinmetzen rasch abnutzten, musste der Schmied unentwegt neue schaffen. Unbeteiligten Zuschauern mochte die Baustelle als reinstes Chaos erscheinen, Tom hingegen durchschaute auf einen Blick den großen, komplizierten Mechanismus, den zu beherrschen seine größte Sehnsucht war.
Jeder Handgriff der Männer war ihm vertraut, und er sah auf Anhieb, wie weit die Arbeit bereits gediehen war. Gegenwärtig errichtete man die Ostfassade.
Dort war in fünfundzwanzig bis dreißig Fuß Höhe ein Gerüst angebracht. Während die Maurer im Kirchenportal auf das Ende des Regens warteten, stiegen unablässig Träger mit Steinen auf den Schultern die Leitern hinauf und hinunter. Weiter oben kletterten Dachdecker und Klempner übers Dachgebälk wie Spinnen in einem riesigen hölzernen Netz. Sie nagelten Bleiplatten auf die Verstrebungen und brachten Abflussrohre und Dachrinnen an.
Mit Bedauern stellte Tom fest, dass die Kathedrale nahezu fertig war. Mehr als zwei Jahre Arbeit konnte er sich hier nicht erhoffen – kaum genug, um zum leitenden Steinmetz aufzusteigen, geschweige denn zum Dombaumeister. Trotzdem wollte er um Arbeit nachsuchen, denn der Winter stand vor der Tür. Mit Hilfe des Schweins hätte er seine Familie auch ohne Arbeit über die kalte Jahreszeit gebracht – ohne das Schwein war es aussichtslos.
Sie folgten dem Ochsenkarren bis zu jener Stelle, an der die Steine abgeladen und gestapelt wurden. Dankbar senkten die Ochsen ihre Köpfe in den Wassertrog. Der Fuhrmann rief einem vorbeigehenden Maurer zu: »Wo ist der Baumeister?«
»In der Burg«, antwortete der Maurer.
Der Fuhrmann nickte und wandte sich an Tom. »Ihr findet ihn vermutlich im Bischofspalast.«
»Habt Dank.«
»Ganz meinerseits.«
Erneut drängten sie sich durch die verstopften, engen Gassen bis zum Eingang der Burg. Sie war durch einen weiteren trockenen Graben und einen zweiten, riesigen Erdwall gesichert. Die Familie überquerte die Zugbrücke. In einem Wachhäuschen saß ein untersetzter, mit einer Ledertunika bekleideter Mann auf einem Hocker und blickte hinaus in den Regen. Er war mit einem Schwert bewaffnet. Tom sprach ihn an.
»Guten Tag. Tom Builder werde ich genannt. Ich möchte gerne den Dombaumeister sprechen, John von Shaftesbury.«
»Beim Bischof«, antwortete der Wachhabende gleichgültig.
Sie betraten den Hof. Bei der Burg handelte es sich, wie bei den meisten anderen Burgen auch, um eine Ansammlung unterschiedlicher Gebäude hinter einem großen Erdwall. Der Burghof maß im Durchmesser etwa hundertfünfzig Schritt. Auf der dem Tor gegenüberliegenden Seite stand der wuchtige Wohnturm, die letzte Zuflucht bei einem Angriff. Er erhob sich hoch über die Befestigungsanlagen und gewährte einen weiten Ausblick auf die Umgebung. Linker Hand befand sich eine Reihe von Gebäuden, die überwiegend aus Holz gezimmert waren: ein langer Stall, ein Backhaus und verschiedene Vorratslager. In der Mitte des Burghofs stand ein Brunnen. Auf der rechten Seite nahm ein großes Steinhaus, bei dem es sich offensichtlich um den bischöflichen Palast handelte, fast die gesamte Nordhälfte der Anlage ein. Es war im gleichen Stil wie die Kathedrale gehalten: Die kleinen Türen und Fenster schlossen oben mit
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