Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
Grundherrn dazu zu bewegen, ihm einen kleinen Hof zu verpachten – vor allem, wenn er ihm überzeugend vorlog, er sei gerade von einer langen Pilgerfahrt nach Jerusalem oder Santiago de Compostela zurückgekehrt. Gewiss gab es auch Bauernhöfe, die von Frauen bewirtschaftet wurden, doch handelte es sich dabei ausnahmslos um Witwen mit erwachsenen Söhnen. Kein Mensch, weder in der Stadt noch auf dem flachen Land, würde ihr Arbeit geben – ganz abgesehen davon, dass sie keine Unterkunft besaß und ungelernte Arbeitskräfte von ihrem Herrn nur selten ein Obdach gestellt bekamen. Sie war ein Mensch ohne Namen, ein Nichts.
Tom empfand Mitleid mit ihr. Sie hatte ihrem Kind alles gegeben, was sie konnte, aber das reichte nicht aus. Sie sah nirgendwo einen Ausweg. Sie war schön, gescheit und stark – und dennoch dazu verurteilt, bis zum Ende ihrer Tage gemeinsam mit ihrem seltsamen Sohn im tiefen Waldversteck zu hausen.
Agnes kam mit Martha und Alfred zurück. Tom musterte Martha nicht ohne Sorge, doch sie sah aus, als sei ihr noch nie etwas Schlimmeres widerfahren als eine gründliche Gesichtswäsche. Ellens Kummer hatte Tom für eine Weile abgelenkt, doch nun holte ihn die eigene Misere wieder ein: Er hatte keine Arbeit, und sein Schwein war ihm gestohlen worden. Die Schatten wurden bereits merklich länger. Tom begann die geringe Habe zusammenzusuchen, die ihnen noch verblieben war.
»Wo zieht Ihr hin?«, fragte Ellen.
»Nach Winchester«, antwortete Tom. In Winchester gab es eine Burg, einen bischöflichen Palast, verschiedene Klöster – und vor allem eine Kathedrale.
»Salisbury ist näher«, erwiderte Ellen. »Und als ich zum letzten Mal dort war, wurde am Dom gerade gebaut. Sie waren dabei, ihn zu erweitern.«
Tom hörte es voller Freude: genau das, was er suchte! Gelang es ihm, einen Arbeitsplatz an einer Dombauhütte zu bekommen, konnte er seine Fähigkeiten unter Beweis stellen und es über kurz oder lang zum Baumeister bringen. »Wie kommen wir von hier aus nach Salisbury?«, fragte er aufgeregt.
»Ihr müsst umkehren. Nach drei oder vier Meilen erreicht Ihr dann eine Weggabelung – erinnert Ihr Euch?«
»Ja, da war doch ein Teich mit übelriechendem Wasser …«
»Ganz recht. Wenn Ihr Euch dort nach rechts wendet, gelangt Ihr nach Salisbury.«
Sie verabschiedeten sich. Agnes hatte Ellen von Anfang an nicht gemocht, aber sie überwand sich und sagte höflich: »Ich danke Euch, dass Ihr mir bei Marthas Pflege zur Hand gegangen seid.«
Ellen lächelte und sah ihnen sehnsuchtsvoll nach.
Nach einiger Zeit warf Tom einen Blick zurück. Ellen stand noch immer am selben Fleck, die Beine leicht gespreizt und eine Hand Schatten spendend über den Augen, den merkwürdigen Knaben an ihrer Seite. Tom winkte ihr, und sie winkte zurück.
»Eine bemerkenswerte Frau«, sagte er zu Agnes.
Agnes erwiderte nichts darauf, doch Alfred sagte: »Der Junge war vielleicht komisch …«
Sie gingen der tief stehenden Herbstsonne entgegen. Was für eine Stadt mag Salisbury wohl sein, fragte sich Tom; er war noch nie dort gewesen. Natürlich war er aufgeregt. Zwar träumte er davon, eine von Grund auf neue Kathedrale zu errichten, doch wann gab es schon einmal eine solche Gelegenheit? Viel eher fand sich ein altes Gebäude, das restauriert, erweitert oder umgebaut wurde. Ihm war jetzt alles recht – Hauptsache, die Aussicht, später einmal eine Kirche nach eigenen Plänen bauen zu können, blieb ihm erhalten.
»Warum hat der Mann mich geschlagen?«, fragte Martha.
»Weil er unser Schwein stehlen wollte«, gab Agnes zur Antwort.
»Soll er sich doch ein eigenes Schwein besorgen!«, erwiderte das Mädchen empört. Es klang, als sei ihr gerade erst aufgegangen, dass der Wegelagerer ihnen ein Unrecht angetan hatte.
Wenn Ellen ein Handwerk erlernt hätte, brauchte sie sich keine Sorgen mehr zu machen, dachte Tom. Ein Steinmetz, ein Zimmermann, ein Weber oder ein Gerber konnte kaum in eine vergleichbare Lage geraten – er zog einfach in die nächste Stadt und suchte sich dort Arbeit. Gewiss, es gab auch ein paar Handwerkerinnen, aber das waren zumeist die Ehefrauen der Meister oder ihre Witwen. »Was sie braucht«, sagte Tom laut, »das ist ein Ehemann.«
»Meinen bekommt sie nicht«, bemerkte Agnes spröde.
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Der Tag, an dem sie das Schwein verloren, war auch der letzte milde Herbsttag. Die Nacht verbrachten sie in einer Scheune. Als sie am nächsten Morgen wieder ins Freie traten, wölbte sich der Himmel
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