Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
skrupellosen Leuten umgeben, die um seine Aufmerksamkeit buhlten und sich um seine Gunst stritten; solche Menschen konnte Philip nicht ausstehen: Sie gierten nach Reichtümern und Stellungen, die ihnen nicht zukamen. Die höfischen Ränke durchschaute er ohnehin nicht: In seiner Welt hatte man sich das, was man wollte, gefälligst zu verdienen, und musste keinem Gönner Honig ums Maul schmieren. Nun allerdings blieb ihm nichts anderes übrig, als sich in diese Welt zu begeben und nach denselben Regeln mitzuspielen: Nur der König konnte ihm die Markterlaubnis erteilen. Nur der König konnte die Kathedrale noch retten.
Er beendete sein Gebet und verließ die Krypta. Die aufgehende Sonne tauchte die grauen Steinmauern der aufstrebenden Kathedrale in rosa Licht. Die Bauleute, die von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang werkten, sperrten ihre Bauhütten auf, schärften ihre Werkzeuge und mischten den ersten Schub Mörtel. Der Verlust des Steinbruchs hatte noch keine Auswirkungen auf den Bau gehabt; sie hatten von Anfang an mehr Quader als nötig gefördert und verfügten über einen Vorrat, der viele Monate lang reichen würde.
Es wurde Zeit zum Aufbruch. Die nötigen Vorkehrungen waren getroffen. Der König hielt sich in Lincoln auf. Philip nahm einen Reisebegleiter mit: Alienas Bruder Richard. Nachdem er ein Jahr lang als Knappe gekämpft hatte, war er vom König zum Ritter geschlagen worden. Er war heimgekehrt, um sich eine neue Ausrüstung zu beschaffen, und machte sich nun auf den Weg zurück zur königlichen Armee.
Aliena war im Wollgeschäft erstaunlich erfolgreich geworden. Sie verkaufte ihre Vliese längst nicht mehr an Philip, sondern verhandelte direkt mit den flämischen Händlern. Dieses Jahr hatte sie sogar die gesamte Wolle der Priorei aufkaufen wollen. Sie hätte weniger gezahlt als die Flamen, aber dafür hätte Philip sein Geld eher bekommen. Er hatte abgelehnt. Trotzdem war es als Anzeichen für ihren Erfolg zu werten, dass sie ihm überhaupt ein solches Angebot machen konnte.
Vor dem Stall warteten Aliena und ihr Bruder bereits auf Philip. Richard saß auf einem kastanienbraunen Schlachtross, das Aliena zwanzig Pfund gekostet haben musste. Er hatte sich zu einem stattlichen, breitschultrigen jungen Mann entwickelt, dessen regelmäßige Züge lediglich eine rote Narbe am rechten Ohr beeinträchtigte. Er war aufs Prächtigste in Rot und Grün gekleidet und mit einem neuen Schwert, sowie mit Lanze, Streitaxt und Dolch ausgerüstet. Sein Gepäck wurde von einem zweiten Pferd getragen, das er am langen Zügel mit sich führte. Begleitet wurde er von zwei Bewaffneten auf schnellen Pferden und einem Knappen, der ein gedrungenes, kräftiges Pferd ritt.
Aliena war in Tränen aufgelöst, doch Philip hätte nicht zu sagen gewusst, ob es am Abschiedsschmerz lag, am Stolz auf Richards prächtige Erscheinung oder an der Angst, ihn nie wiederzusehen. Vielleicht an allem zusammen. Viele Dorfbewohner hatten sich zur Verabschiedung eingefunden, darunter fast alle jungen Männer und Knaben. Richard war ihr Held, das stand ganz außer Frage. Auch die Mönche waren vollzählig erschienen, um ihrem Prior eine gute Reise zu wünschen.
Die Stallburschen führten die beiden Pferde heran, einen für Philip bereits gesattelten Zelter und ein Lastpferd für sein bescheidenes Gepäck, das hauptsächlich aus Reiseproviant bestand. Die Handwerker legten ihre Werkzeuge nieder und kamen, angeführt vom bärtigen Tom und seinem rothaarigen Stiefsohn Jack, herüber.
Philip verabschiedete sich mit einer eher förmlichen Umarmung von Remigius, seinem Subprior, und um einiges herzlicher von Milius und Cuthbert, bevor er aufsaß. Grimmig stellte er fest, dass er nun vier Wochen lang tagtäglich in diesem harten Sattel sitzen musste. Dann erteilte er allen Anwesenden seinen Segen. Die Mönche, Bauleute und Dorfbewohner winkten und riefen ihm und Richard ihr Adieu zu, als die beiden Seite an Seite durch das Klostertor ritten.
Dann ging’s die enge Dorfstraße hinunter, wo sie den Leuten zuwinkten, die aus ihren Häusern schauten. Unter lautem Hufgetrappel überquerten sie die Holzbrücke und schlugen den Weg durch die Felder ein. Kurz darauf warf Philip einen Blick zurück und sah, wie die aufgehende Sonne durch die Fensteröffnung im halb fertigen Ostflügel der neuen Kathedrale schien. Wenn seine Mission misslang, würde sie womöglich nie vollendet. Doch nach allem, was er durchgemacht hatte, mochte er sich nicht mit der
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