Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
Vorstellung befassen, er könnte letztendlich doch den Kürzeren ziehen. Er drehte sich wieder um und richtete sein Augenmerk auf den vor ihm liegenden Weg.
Die Stadt Lincoln liegt auf einer Anhöhe. Philip und Richard näherten sich ihr von Süden auf der uralten und sehr belebten Ermine Street. Schon von Weitem konnten sie den Hügel mit den Türmen der Kathedrale und den Burgzinnen sehen. Aber sie waren noch immer drei, vier Meilen entfernt, als sie, zu Philips Erstaunen, auch schon an einem Stadttor anlangten. Die Vororte müssen wahrlich riesig sein, dachte er; die Bevölkerung muss in die Tausende gehen.
Weihnachten war die Stadt in die Hände Ranulfs von Chester gefallen, der der mächtigste Mann in Englands Norden und ein Verwandter der Kaiserin Mathilde war. König Stephan hatte die Stadt zwar wieder an sich gebracht, aber Ranulfs Truppen hielten nach wie vor die Burg besetzt. Lincoln war, wie Philip und Richard unterwegs erfahren hatten, in der merkwürdigen Lage, zwei miteinander verfeindete Heerlager innerhalb seiner Stadtmauern zu beherbergen.
Philip hatte sich im Laufe der vergangenen vier Wochen nicht für Richard erwärmen können. Alienas Bruder war ein zorniger junger Mann, der die Hamleighs glühend hasste und nur auf Rache sann; und er tat so, als dächte Philip nicht anders. Tatsächlich aber bestand ein großer Unterschied zwischen ihnen. Wenn Philip die Hamleighs hasste, so wegen der Gräueltaten, die sie ihren Untertanen zufügten – die Welt konnte sehr viel besser ohne diese Familie auskommen. Richard hingegen würde niemals Ruhe finden, wenn es ihm nicht gelang, die Hamleighs aus dem Feld zu schlagen – sein Hass diente reinem Selbstzweck.
Richard war, wenn es um körperlichen Einsatz ging, tapfer und stets kampfbereit, doch auf anderen Gebieten zeigte er deutliche Schwächen. So verwirrte er seine Krieger, indem er sie einmal wie Ebenbürtige behandelte, dann aber wieder wie Bedienstete herumkommandierte. In den Gasthäusern versuchte er, auf Fremde Eindruck zu machen, indem er ihnen Bier spendierte. Er gab stets vor, den Weg genau zu kennen, auch wenn es gar nicht stimmte, sodass sie nicht selten einen weiten Umweg machten, nur weil er seinen Irrtum nicht eingestehen mochte. Lange bevor sie Lincoln erreichten, war Philip zu der Erkenntnis gekommen, dass Richard seiner Schwester Aliena nicht das Wasser reichen konnte.
Sie kamen an einem großen See vorbei, auf dem es von Schiffen nur so wimmelte, und überquerten am Fuße des Hügels einen Fluss, der die südliche Begrenzung des Stadtkerns bildete. Lincoln lebte offensichtlich von der Schifffahrt. Gleich bei der Brücke gab es einen Fischmarkt. Sie ließen die ausgedehnten Vororte hinter sich, passierten ein weiteres bewachtes Tor und betraten die belebte Stadt. Unmittelbar vor ihnen führte eine schmale Straße, die schwarz vor Menschen war, den Hang hinauf. Die dicht gedrängt stehenden Häuser zu beiden Seiten waren teilweise oder zur Gänze aus Stein gebaut, ein Zeichen beachtlichen Reichtums. Die Anhöhe war dermaßen steil, dass das Hauptstockwerk der meisten Häuser an einem Ende etliche Fuß über den Boden und am anderen Ende unter die Erde gebaut war. Das bergabwärts gelegene Geschoss diente unweigerlich als Laden oder Werkstatt. Die einzigen unbebauten Flächen fanden sich auf den neben den Kirchen gelegenen Friedhöfen, und auf jedem einzelnen wurde ein Markt abgehalten, für Getreide, Geflügel, Wolle, Leder und anderes mehr.
Philip bahnte sich mit Richard und dessen kleinem Gefolge mühsam den Weg durch das Gewimmel von Städtern, Bewaffneten, Tieren und Gespannen. Zu seinem Erstaunen bemerkte Philip, dass die ganze Stadt gepflastert war. Welch ein Reichtum muss hier herrschen, dachte er, wenn man sogar die Straße mit Steinen auslegen kann wie einen Palast oder eine Kathedrale! Der Weg war zwar durch den vielen Unrat und Tierdung immer noch rutschig, aber weit besser als die Schlammströme, in die sich die Straßen anderer Städte winters aufzulösen pflegten.
Sie hatten den Bergrücken erreicht, passierten ein weiteres Tor und fanden sich im Herzen der Stadt. Schlagartig herrschte eine ganz andere Atmosphäre: Es war viel ruhiger, doch lag Spannung in der Luft. Unmittelbar zu ihrer Linken befand sich der Eingang zur Burg. Die große, eisenbeschlagene Tür im Durchgang war fest verschlossen. Schemenhafte Gestalten bewegten sich hinter den Schießscharten im Torhaus, und Wachposten in Panzerzeug, deren Eisenhüte
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