Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
»Ihr könnt die Leute doch nicht abweisen!«, rief er erzürnt. »Da draußen gehen sie elendig zugrunde!«
»Wenn wir die Türen nicht verschließen, gehen wir alle zugrunde!«, quäkte Alexander außer sich.
Philip packte den Bischof an den Falten seiner Robe. »Vergesst nicht, wer Ihr seid!«, schnappte er. »Es steht Euch nicht zu, Angst zu haben – und schon gar nicht vor dem Tod. Reißt Euch gefälligst zusammen!«
»Schafft mir den Kerl vom Leibe!«, kreischte Alexander.
Mehrere Domherren eilten ihm zu Hilfe und zerrten Philip fort.
Philip rief ihnen zu: »Seht Ihr denn nicht, was er tut?«
»Warum geht Ihr nicht selber hinaus und beschützt sie, wenn Ihr so tapfer seid?«, erwiderte einer der Domherren.
Philip riss sich los. »Genau das habe ich vor«, antwortete er.
Er drehte sich um. Das große Hauptportal wurde gerade geschlossen. Drei Priester mühten sich mit dem Tor ab, während draußen immer mehr Menschen versuchten, sich durch den schmaler werdenden Spalt zu zwängen. Philip konnte sich gerade noch durchquetschen, bevor es endgültig zufiel.
Binnen kurzem entstand im Portal ein kleiner Menschenauflauf. Männer und Frauen hämmerten mit den Fäusten gegen die Tür und forderten schreiend Einlass, doch drinnen rührte sich nichts.
Plötzlich wurde Philip von Furcht ergriffen. Die panische Angst auf den Gesichtern der ausgesperrten Menschen steckte ihn an, und er spürte, wie er zu zittern begann. Schon einmal war er – im Alter von sechs Jahren – mit einer siegreichen Armee in Berührung gekommen, und das Entsetzen, das ihn damals überwältigt hatte, steckte ihm noch immer in den Knochen. Die Erinnerung an den Augenblick, da die Bewaffneten in sein Elternhaus eingedrungen waren, überfiel ihn so plötzlich und mit solcher Deutlichkeit, als sei es erst gestern geschehen. Wie angewurzelt stand er da und bemühte sich, das Zittern seiner Glieder zu unterdrücken, während um ihn herum die Menschenmenge tobte. Es war schon lange her, dass ihn dieser Albtraum zum letzten Mal heimgesucht hatte. Wieder sah er die blutrünstigen Gesichter der Männer vor sich, das Schwert, mit dem sie seine Mutter aufgespießt hatten, seinen Vater, dem die Eingeweide grausig aus dem Bauch quollen; wieder fühlte er dieses nichts verstehende, alles überwältigende, an Wahnsinn grenzende Entsetzen. Und dann sah er den Mönch, der mit einem Kreuz in der Hand durch die Tür kam – und das Geschrei verstummte. Der Mönch zeigte seinem Bruder und ihm, wie sie die Augen von Vater und Mutter zu schließen hatten, damit sie den ewigen Schlaf tun konnten … Wie erwacht aus einem langen Traum, machte sich Philip klar, dass er kein verängstigtes Kind mehr war, sondern ein erwachsener Mann, ein Mönch. Und ebenso wie Abt Peter ihn und seinen Bruder an jenem schrecklichen Tag vor siebenundzwanzig Jahren gerettet hatte, so wollte der erwachsene, im Glauben gefestigte Philip mit Gottes Hilfe heute jenen zur Seite eilen, die um ihr Leben fürchten mussten.
Er zwang sich, den ersten Schritt zu tun; der zweite war schon weniger schwierig und der dritte beinahe ein Kinderspiel.
Als er auf die Straße stieß, die zum Westtor der Stadt führte, wurde er fast von einer Gruppe fliehender Stadtbewohner über den Haufen gerannt: davonjagende Männer und Knaben, ihre kostbarsten Besitztümer in Bündel gepackt; um Atem ringende Alte, schreiende Mädchen, Frauen mit kreischenden Kindern in den Armen. Der Ansturm warf ihn etliche Schritte zurück, bevor es ihm gelang, sich gegen den Strom zu stemmen. Die Flüchtenden hielten auf den Dom zu. Der sei geschlossen, wollte er ihnen zurufen; sie sollten in ihren eigenen Häusern bleiben, die Türen verbarrikadieren und sich still verhalten; aber alles schrie wild durcheinander, keiner hörte ihm zu.
Er hatte erst wenige Schritte zurückgelegt, als plötzlich vier Reiter die Straße entlanggaloppierten. Sie hatten also diese Massenflucht verursacht! Die Leute drückten sich flach gegen die Häuserwände, andere konnten nicht rechtzeitig entkommen, und viele wurden von den hämmernden Hufen der Pferde niedergetrampelt. Philip packte blankes Entsetzen, aber hier konnte er nichts ausrichten. Er verdrückte sich in eine Seitengasse, um nicht selbst umgemäht zu werden. Wenig später war der Spuk vorbei, und die Straße lag wie verlassen da.
Die Opfer blieben auf der Straße liegen. Als Philip aus der Seitengasse kam, nahm er eine Bewegung wahr: Ein Mann mittleren Alters in einem
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