Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
noch so klein, dass sich Neuigkeiten in Windeseile verbreiteten –, und wenn ihn auch niemand darauf ansprach, so zog er doch in seiner Alltagskleidung manch neugierigen Blick auf sich. Er eilte den Hügel hinunter, über die Brücke und am Ufer entlang, bis er ein Röhricht erreichte. Er suchte sich ein Plätzchen im Schilf, das ihm Sicht auf die Brücke bot, hockte sich nieder und wartete.
Er hatte nicht die geringste Ahnung, wohin er sich wenden sollte. Am besten ging er vielleicht immer geradeaus, bis er auf eine Stadt traf, in der ein Dom gebaut wurde. Es war ihm vollkommen ernst gewesen, als er zu Aliena gesagt hatte, er sei gut genug, um überall Arbeit zu finden. Er war überzeugt, dass ihn jeder Dombaumeister mit Handkuss nähme – selbst, wenn er niemanden brauchte –, führte er ihm nur vor, wie kunstfertig und geschickt er mit dem Meißel umging. Doch das alles schien nun sinnlos geworden. Niemals konnte er eine andere Frau als Aliena lieben, und mit der Kathedrale zu Kingsbridge ging es ihm ähnlich. Hier und nirgendwo sonst wollte er bauen.
Vielleicht gehe ich auch nur in den Wald, lege mich dort irgendwo unter die Bäume und warte auf den Tod …
Die Vorstellung gefiel ihm, je mehr er darüber nachdachte. Das Wetter war mild, das Laub leuchtete grün und golden – ein friedliches Ende. Er bedauerte nur, nicht mehr über seinen Vater in Erfahrung gebracht zu haben, bevor er starb.
Er war gerade dabei, sich auszumalen, wie er auf einem Lager aus Herbstlaub sachte in den Tod hinüberglitt, da erblickte er seine Mutter auf der Brücke. Sie führte ein Pferd am Zügel.
Er sprang auf und lief ihr entgegen. Das Pferd war ihr eigenes, eine kastanienbraune Stute, die niemand außer Ellen ritt. »Du kannst mein Pferd haben«, sagte sie.
Er griff nach ihrer Hand und drückte sie dankbar.
In ihre Augen traten Tränen. »Ich hatte dir so wenig zu bieten«, sagte sie. »Erst ließ ich dich im Wald aufwachsen wie einen Wilden, dann zog ich mit Tom durchs Land und du wärest beinahe verhungert, und zu alledem musstest du dich auch noch mit Alfred abfinden.«
»Du hast deine Sache sehr gut gemacht, Mutter«, gab er zurück. »Heute Morgen habe ich mit Aliena geschlafen. Jetzt kann ich zufrieden sterben.«
»Du dummer Junge«, sagte sie. »Du bist genau wie ich. Wenn du deine Liebste nicht haben kannst, dann bleibst du lieber allein.«
»Geht es dir denn genauso?«, wollte Jack wissen.
Sie nickte. »Nach dem Tod deines Vaters bin ich lieber allein geblieben, als mich mit dem Zweitbesten zufriedenzugeben. Nie wollte ich einen anderen Mann haben – bis ich Tom traf. Und das war elf Jahre später.« Sie entzog ihm ihre Hand. »Ich erzähle dir das nicht ohne Grund: Eines Tages wirst du eine andere lieben, selbst wenn es elf Jahre dauern sollte; das verspreche ich dir.«
Er schüttelte den Kopf. »Das scheint mir ganz unmöglich.«
»Ich weiß.« Sie warf einen beunruhigten Blick über die Schulter auf die Stadt. »Du musst gehen.«
Jack wandte sich dem Pferd zu. Die Satteltaschen waren prall gefüllt. »Was ist da drin?«, fragte er.
»Wegzehrung, ein bisschen Geld und ein voller Weinschlauch in dieser hier«, erwiderte sie. »In der anderen sind Toms Werkzeuge.«
Jack war gerührt. Mutter hatte nach Toms Tod darauf bestanden, seine Werkzeuge zu behalten, als Erinnerung. Dass sie sich nun davon trennte und an ihn weitergab! Er umarmte sie. »Danke«, sagte er schlicht.
»Wo willst du hin?«
Sein Vater fiel ihm ein. »Wo erzählen die Spielleute ihre Geschichten?«, fragte er.
»Auf der Pilgerstraße nach Santiago de Compostela.«
»Glaubst du, dass sie sich an Jack Shareburg erinnern können?«
»Vielleicht. Sag ihnen, dass du ihm wie aus dem Gesicht geschnitten bist.«
»Wo liegt Santiago?«
»In Spanien.«
»Dann gehe ich nach Spanien.«
»Das ist ein weiter Weg, Jack.«
»Ich habe Zeit – mehr als genug.«
Sie schlang die Arme um ihn und drückte ihn an sich. Er fragte sich, wie oft sie das in den vergangenen achtzehn Jahren wohl getan, wie oft sie ihn über ein aufgeschlagenes Knie, ein verloren gegangenes Spielzeug oder irgendeine andere kindliche Enttäuschung hinweggetröstet haben mochte – und nun über diesen Schmerz, der nur allzu erwachsen war. Vor seinem inneren Auge zog alles vorbei, was sie je für ihn getan hatte – von seiner Kindheit im Wald bis zu seiner Flucht aus dem Kerker, stets bereit, wie eine Wildkatze für ihren Sohn zu kämpfen. Es tat unendlich weh,
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