Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
von ihr zu gehen.
Sie ließ ihn los, und er schwang sich aufs Pferd.
Einen Blick noch zurück, auf Kingsbridge! Bei meinem ersten Besuch, dachte er, war es ein kleines, verschlafenes Nest mit einer alten, baufälligen Kathedrale. Dann habe ich den alten Dom in Brand gesteckt, doch das weiß außer mir keine Menschenseele … Und heute ist das Nest eine geschäftige, selbstgefällige kleine Stadt! Nun ja, es gibt schließlich noch andere Städte … Der Abschied fiel ihm unendlich schwer, aber nun lockte das Unbekannte, das Abenteuer; darüber musste der Schmerz, alles, was er je geliebt, zurückzulassen, verblassen.
Mutter sagte: »Komm bitte wieder, Jack, irgendwann.«
»Ich komme bestimmt wieder.«
»Versprochen?«
»Versprochen.«
»Wenn dir das Geld ausgeht, bevor du Arbeit findest, dann verkauf das Pferd, nicht das Werkzeug«, sagte sie.
»Ich liebe dich, Mutter«, sagte er.
Ihre Augen schwammen in Tränen. »Pass auf dich auf, mein Sohn.«
Er gab dem Pferd einen Tritt, und es setzte sich in Bewegung. Er drehte sich um und winkte. Sie winkte zurück. Dann spornte er das Pferd zum Trab an und ritt, ohne einen einzigen Blick zurück, von dannen.
Richard kam rechtzeitig zur Hochzeit heim.
König Stephan hatte ihm großzügig zwei Tage Urlaub gewährt, erklärte er. Die königliche Armee lag vor Oxford und belagerte die Burg, worin Mathilde in der Falle saß, und so gab es für die Ritter nicht viel zu tun. »Ich konnte doch unmöglich die Hochzeit meiner Schwester versäumen«, sagte er, und Aliena dachte verbittert: Du willst doch nur mit eigenen Augen sehen, dass sie auch wirklich stattfindet, damit du gewiss sein kannst, dass Alfred sein Wort hält.
Dennoch war sie froh, dass er sie zur Kirche und zum Altar führen würde. Sie hatte ja sonst niemanden.
Sie legte ein neues Leinenhemd an, darüber ein modisches weißes Gewand. Mit ihrem Stummelhaar ließ sich kein Staat machen, doch sie flocht die längsten Strähnen zu Zöpfen und umwickelte sie nach der neuesten Mode mit weißen Seidenbändern. Von der Nachbarin lieh sie sich einen Spiegel. Sie war blass, und ihre Augen zeugten von einer schlaflosen Nacht. Nun ja, daran war jetzt nichts mehr zu ändern. Richard beobachtete sie. Er sah ein wenig einfältig drein, als wäre er sich seiner Schuld bewusst, und zappelte unruhig hin und her. Sorgte er sich, sie könnte die ganze Sache im letzten Moment abblasen?
Es gab Augenblicke, da war sie ernsthaft versucht, genau das zu tun. Sie malte sich aus, wie sie mit Jack Hand in Hand Kingsbridge den Rücken kehrte und irgendwo anders ein neues Leben begann, ein einfaches, ehrlich verdientes Leben ohne die Last alter Schwüre und toter Eltern. Was für ein törichter Traum! Ließ sie ihren Bruder im Stich, wurde sie nirgendwo glücklich, das war ihr klar.
Dann kam ihr in den Sinn, sie könnte zum Fluss hinuntergehen und sich hineinstürzen; sie sah sich schon stromabwärts treiben, eine aufgedunsene Wasserleiche im Hochzeitskleid, und sie begriff, dass die Heirat mit Alfred immer noch besser war, bot sie doch für so manche Schwierigkeit die beste Lösung.
Jack hätte dafür natürlich nur Hohn und Spott übrig.
Die Kirchenglocke begann zu läuten.
Aliena erhob sich.
So hatte sie sich ihre Hochzeit nie vorgestellt. Als kleines Mädchen hatte sie sich ausgemalt, wie sie einst am Arm ihres Vaters vom Wohnturm über die Zugbrücke zur Kapelle im tiefergelegenen Burghof schritte, wie sich Ritter und Krieger, Gesinde und Pächter in der Einfriedung drängten, ihr zujubelten und Glück wünschten. Der junge Mann, der in der Kapelle auf sie wartete, war in diesem Tagtraum verschwommen gewesen, aber sie wusste, dass er sie anbetete und sie zum Lachen brachte und dass sie ihn wundervoll fand. Aber nichts in ihrem Leben war so gekommen, wie sie sich’s erhofft hatte. Richard hielt die Tür ihres kleinen Häuschens für sie auf, und sie trat ins Freie.
Zu ihrer Überraschung standen ihre Nachbarn vor den Türen ihrer Häuser, um sich von ihr zu verabschieden. Sie riefen ihr »Gott segne Euch!« und »Alles Gute!« zu, und Aliena empfand große Dankbarkeit. Auf ihrem Weg durch die Straße wurde sie mit Getreidekörnern überschüttet, dem Symbol für Fruchtbarkeit. Sie würde Kinder haben, und ihre Kinder würden sie lieben.
Die Pfarrkirche lag am anderen Ende der Stadt, im Viertel der Reichen, wo sie von heute Abend an leben würde. Sie kam am Kloster vorbei. Die Mönche hielten gerade ihren Gottesdienst in
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