Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
Einkünfte aus den Standmieten zurückgingen. Kingsbridge geriet allmählich ins Abseits.
Das Kernproblem war die fehlende Zuversicht der Bevölkerung. Zwar hatten die Leute ihre Häuser wiederaufgebaut und ihre kleinen Geschäfte wieder eröffnet, doch fehlte ihnen alles Vertrauen in die Zukunft. Was immer sie planen, was immer sie bauen mochten – es konnte an einem einzigen Tag wieder dahin sein, wenn es William Hamleigh so gefiel. Die unterschwellige Unsicherheit beherrschte das Denken aller und lähmte jeglichen Unternehmergeist.
Philip erkannte, dass es so nicht weitergehen konnte. Er musste aktiv werden, musste unbedingt dem schier unaufhaltsamen Abstieg Einhalt gebieten. Ein dramatisches Zeichen war erforderlich, das der Welt im Allgemeinen und den Bewohnern der Stadt im Besonderen deutlich machte, dass Kingsbridge nicht aufgab, sondern sich wehrte. Er verbrachte viele Stunden in Meditation und Gebet, um herauszufinden, wie dieses Zeichen aussehen könnte.
Im Grunde brauchte es nur ein Wunder. Wenn die Gebeine des heiligen Adolphus auch nur eine einzige Prinzessin von der Pest heilen, nur ein einziges Mal brackiges Brunnenwasser in frisches Süßwasser verwandeln würden, kämen die Menschen sogleich in Scharen nach Kingsbridge gepilgert. Aber der Heilige hatte schon seit Jahren keine Wunder mehr gewirkt. Mitunter fragte sich Philip, ob seine ruhige, praktische Art, das Kloster zu leiten, dem Heiligen womöglich nicht behagte, ereigneten sich doch Wunder allem Anschein nach häufiger an Orten, wo die Atmosphäre geprägt war von glühendem religiösem Eifer (um nicht zu sagen von schrankenloser Hysterie), wo ein vernunftbestimmtes Regiment jedoch wenig galt. Philip indes war durch eine Schule gegangen, die ihn gelehrt hatte, mit beiden Beinen auf der Erde zu bleiben. Vater Peter, sein erster Abt, pflegte zu sagen: »Betet um Wunder, aber vergesst nicht, Kohl zu pflanzen.«
Das Symbol für die Lebenskraft von Kingsbridge war die Kathedrale. Konnte sie nicht durch ein Wunder vollendet werden? Eine ganze Nacht lang betete Philip um solch ein Wunder, doch am Morgen war der Chor immer noch dachlos dem Wetter preisgegeben, und dort, wo die Querschiffwände anschließen sollten, ragten die zackigen, offenen Mauerenden in die Luft.
Einen neuen Baumeister hatte der Prior noch nicht eingestellt. Mit Entsetzen hatte er vernommen, welch hohe Löhne sie forderten. Erst allmählich wurde ihm klar, wie billig Tom gewesen war. Immerhin – bisher kam Alfred mit den verbliebenen Arbeitskräften ganz gut zurande. Seit seiner Heirat war Toms Sohn recht mürrisch und verschlossen – wie ein Mann, der sich vieler Rivalen entledigt, um König zu werden, und dann erst herausfindet, dass ihm das Königtum eine mühselige Last ist. Alfred war jedoch klar in seinen Befehlen und Anweisungen und schien zu wissen, was er wollte. Die anderen Männer hatten Respekt vor ihm.
Die Lücke, die Tom hinterlassen hatte, schloss er freilich nicht. Tom Builder fehlte Philip nicht nur als Baumeister, sondern auch als Mensch. Tom hatte sich immer wieder mit der Frage beschäftigt, warum große Kirchen nach einem ganz bestimmten Grundprinzip errichtet werden mussten, und sich gemeinsam mit Philip in Spekulationen darüber ergangen, warum manche Bauten stehen blieben, während andere in sich zusammenfielen. Besonders fromm war der Baumeister nicht gewesen, doch gelegentlich hatte er Philip theologische Fragen gestellt, die bewiesen, dass er dem Glauben dieselbe kritische Intelligenz entgegenbrachte wie seinem eigenen Handwerk. Philip hatte in ihm einen Gesprächspartner gesehen, der ihm geistig ebenbürtig war. Derlei Menschen gab es viel zu wenige in seinem Leben; Jack hatte dazugehört, auch Aliena, aber Letztere war fast versunken in ihrer jammervollen Ehe. Cuthbert Whitehead wurde allmählich alt, und Milius, der Kämmerer, war fast ständig unterwegs. Er reiste von Schafzucht zu Schafzucht, zählte Morgen, Mutterschafe und Wollsäcke.
Ein lebendiges, geschäftiges Kloster in einer prosperierenden Domstadt würde in Hinkunft zweifellos Scholaren und andere kluge Köpfe anziehen. Philip freute sich schon auf diese Zeit. Aber wenn es ihm nicht gelang, Kingsbridge die alte Tatkraft und Zuversicht zurückzugeben, würde sie niemals kommen.
»Wir haben einen milden Winter«, sagte Alfred eines Morgens kurz nach Weihnachten. »Wir können früher als sonst wieder mit der Arbeit beginnen.«
Philip überlegte. Das Deckengewölbe sollte im
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