Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
wurde noch ein wenig blasser und konnte seine Überraschung nicht verhehlen.
»Noch ein Seitenwechsel?«, fragte er skeptisch.
»Nur einmal mehr als Ihr«, gab William derb zurück.
Walerans hochmütige Gleichgültigkeit war erschüttert, wenngleich nicht allzu sehr. Ihm und seiner Karriere war es sehr zugute gekommen, dass er William und seine Ritter immer derjenigen Seite zur Verfügung stellen konnte, die Bischof Henry gerade favorisierte. Wenn William sich nun selbstständig machen wollte, so war dies zweifellos ein herber, wenn auch kein tödlicher Schlag. William ließ den Bischof nicht aus den Augen. Ihm war, als könne er dessen Gedanken lesen: Einerseits wollte er Williams Loyalität nicht verlieren, andererseits überlegte er, wie viel sie ihm wert war.
Um Zeit zu gewinnen, erbrach Waleran das Siegel und entrollte das Pergament. Er las, und ein Anflug von Zornesröte flammte über seine fischweißen Wangen. »Verdammt sei dieser Mann!«, zischte er.
»Worum geht es denn?«, fragte William.
Waleran hielt ihm das Schreiben hin. William ergriff es und stierte begriffsstutzig auf das Pergament. »An … den … geheiligten … hochgnädigen Bischof …«
Waleran, dem die Geduld für Williams unbeholfenen Leseversuch fehlte, nahm den Brief hastig wieder an sich. »Das Schreiben stammt von Prior Philip«, sagte er. »Er teilt mir mit, dass das Chorhaus der neuen Kathedrale bis Pfingsten fertiggestellt sei, und hat doch tatsächlich die Frechheit, mich darum zu bitten, die Messe zu lesen.«
William war verblüfft. »Wie hat er denn das schon wieder geschafft? Ich dachte, er hätte die Hälfte seiner Bauleute entlassen.«
Waleran schüttelte den Kopf. »Der Mann fällt doch immer wieder auf seine Füße, gleichgültig, was auch geschieht.« Er sah William nachdenklich an. »Euch hasst er natürlich. Er hält Euch für den Teufel in Menschengestalt.«
William fragte sich, welche Bosheit Waleran nun schon wieder ausheckte. »Na und?«, sagte er.
»Wäre es nicht ein schöner Dämpfer für Prior Philip, wenn Ihr ausgerechnet zu Pfingsten als Graf bestätigt würdet?«
»Für mich allein wollt Ihr nichts unternehmen … Aber wenn Ihr Philip damit kränken könnt, tut Ihr es doch …« Es klang beleidigt, doch insgeheim fühlte William neue Hoffnung aufkeimen.
»Ich kann überhaupt nichts für Euch tun«, widersprach Waleran. »Aber ich werde mit Bischof Henry darüber reden.« Erwartungsvoll sah er zu William auf.
William zögerte. Nach einer Pause murmelte er widerstrebend: »Ich danke Euch.«
Der Frühling war kalt und trübe in diesem Jahr, und am Pfingstsonntag regnete es. Aliena war in der Nacht mit Rückenschmerzen aufgewacht, die sie auch, nachdem es längst Tag geworden war, nicht in Ruhe ließen. Sie kamen und gingen, wieder und wieder. Aliena saß in der Küche und flocht vor dem Kirchgang Marthas Haar, während Alfred ein üppiges Frühstück aus Weichkäse, Weißbrot und Starkbier zu sich nahm. Ein besonders unangenehmer Stich im Rücken ließ Aliena innehalten. Sie zuckte zusammen und richtete sich vorübergehend auf. Martha bemerkte es und fragte: »Was hast du?«
»Rückenschmerzen«, gab Aliena kurzangebunden zurück. Sie wollte nicht darüber reden. Die Schmerzen kamen sicher davon, dass sie in dem zugigen Hinterzimmer auf dem Fußboden schlief – und das wusste niemand, nicht einmal Martha.
Martha erhob sich und nahm einen heißen Stein vom Feuer, während Aliena sich wieder auf ihren Platz setzte. Sie wickelte den Stein in ein altes, versengtes Leder und drückte ihn Aliena in den Rücken. Der Schmerz ließ sofort nach. Nun war es an Martha, Alienas Haar zu flechten; die wilde, dunkle Lockenpracht war inzwischen nachgewachsen.
Seit Ellens Fortgang waren Martha und Aliena sich sehr nahegekommen. Arme Martha: Erst hatte sie ihre Mutter verloren, dann ihre Stiefmutter. Aliena hielt sich für einen schlechten Mutterersatz, war sie doch gerade zehn Jahre älter als Martha. Besser gefiel ihr die Rolle der großen Schwester. Am meisten vermisste Martha merkwürdigerweise Jack, ihren Stiefbruder.
Aber den vermissten sie ja eigentlich alle.
Wo mag er jetzt wohl sein, fragte sich Aliena. Es war nicht auszuschließen, dass er sich ganz in der Nähe befand, auf einer Dombaustelle in Salisbury oder Gloucester vielleicht. Wahrscheinlicher war indes, dass er in die Normandie gegangen war, doch konnte er sich auch sonst wo herumtreiben – in Paris, Rom, Jerusalem oder Ägypten. Aliena
Weitere Kostenlose Bücher