Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
kommenden Sommer errichtet werden. Sobald es fertig war, konnte das Chorhaus benutzt werden, und Kingsbridge wäre keine Domstadt mehr ohne Dom. Das Chorhaus war der wichtigste Teil einer Kirche: Er barg in seinem hinteren, Presbyterium genannten Ende den Hochaltar und die heiligen Reliquien, während vorne, im Chor, wo die Mönche saßen, die meisten Gottesdienste stattfanden. Der Rest der Kirche wurde nur an Sonn- und Feiertagen benutzt. War das Chorhaus erst einmal geweiht, so hatte sich die Baustelle in eine Kirche verwandelt – wenn auch vorerst nur in eine unvollendete.
Ein Jammer, dass es noch fast ein Jahr dauern sollte, bis es so weit war. Alfred hatte zugesagt, bis zum Herbst mit dem Gewölbe fertig zu sein. Meist konnte bis in den November hinein gearbeitet werden. Wurde nun, wie Alfred in Aussicht stellte, früher mit dem Bau begonnen, so musste der Bau eigentlich auch früher fertig werden. Alle Welt wäre höchst erstaunt, wenn die Kirche bereits im Sommer geöffnet werden könnte. Nach solch einem Zeichen habe ich gesucht, dachte Philip – es wird die ganze Grafschaft in Erstaunen versetzen und allenthalben die Botschaft verkünden, dass Kingsbridge sich nicht lange hat in die Knie zwingen lassen.
»Könnt Ihr bis Pfingsten fertig sein?«, fragte Philip.
Alfred sog zwischen zusammengepressten Zähnen die Luft ein. Sein Blick verriet seine Zweifel. »Das Gewölbe ist der schwierigste Teil und erfordert größtes handwerkliches Geschick«, sagte er. »Da darf man nichts überstürzen und keine Lehrbuben dransetzen.«
Sein Vater hätte mit Ja oder Nein geantwortet, dachte Philip gereizt und erwiderte: »Angenommen, ich könnte Euch noch einige Mönche zur Verfügung stellen. Was würde das bringen?«
»Nicht viel. Wir bräuchten mehr Steinmetzen.«
»Einen oder zwei kann ich Euch vielleicht noch verschaffen«, antwortete Philip. Der milde Winter verhieß eine frühe Schafschur; er konnte also darauf hoffen, die Wolle ein wenig früher als sonst auf den Markt zu bringen.
»Ich weiß nicht …« Alfreds Skepsis war noch nicht verschwunden.
»Angenommen, ich setze den Steinmetzen eine Prämie aus?«, fragte Philip. »Einen Wochenlohn zusätzlich, falls das Gewölbe bis Pfingsten fertig ist.«
»Prämie? Davon habe ich noch nie etwas gehört«, murmelte Alfred und zog ein Gesicht, als habe man ihm einen unsittlichen Antrag gestellt.
»Nun, alles geschieht irgendwann zum ersten Mal«, gab Philip pikiert zurück. Alfreds übertriebene Vorsicht begann ihn aufzuregen. »Was meint Ihr?«
Alfred blieb stur. »Ich kann Eure Frage weder mit Ja noch mit Nein beantworten«, sagte er. »Ich werde mit meinen Männern darüber reden.«
»Heute noch?«, fragte Philip ungeduldig.
»Heute noch.«
Und damit musste Philip sich zufriedengeben.
William Hamleigh und seine Ritter erreichten Walerans Palast gleich hinter einem hoch mit Wollsäcken beladenen Ochsenkarren. Die Schafschur hatte bereits begonnen. Beide, William und Waleran, kauften den Bauern ihre Ware zu Vorjahrspreisen ab und spekulierten auf einen großen Zugewinn beim Wiederverkauf. Und keinem von beiden war es schwergefallen, die Pächter zum Verkauf zu bewegen. Anfangs hatten ein paar Bauern sich der Aufforderung widersetzt. Sie wurden davongejagt und ihre Höfe niedergebrannt. Danach begehrte niemand mehr auf.
William blickte die Anhöhe hinter dem Palast hinauf. Sieben Jahre lang befanden sich dort oben schon die kümmerlichen Wallanlagen der geplanten Burg, die nie fertiggestellt worden war – eine ständige Erinnerung an den Streich, den Prior Philip dem Bischof gespielt hatte. Wahrscheinlich würde Waleran, sobald der Wollhandel Gewinn abwarf, die Bauarbeiten wieder aufnehmen. In den Tagen des alten Königs Heinrich hatten Bischöfe außer einem einfachen Zaun aus locker aneinandergefügten Pfählen hinter einem schmalen Graben keine besonderen Verteidigungsanlagen für ihre Paläste gebraucht. Doch nachdem der Bürgerkrieg nun schon fünf Jahre währte, bauten sich selbst Männer, die weder Graf noch Bischof waren, gewaltige Burgen.
Waleran glückt offenbar alles, dachte William nicht ohne Neid, als er vor dem Stall vom Pferd stieg. Waleran hatte dem wetterwendischen Bischof Henry von Winchester stets die Treue gehalten und war somit zu einem seiner engsten Vertrauten geworden. Ein unablässiger Strom von zusätzlichen Besitztiteln und Privilegien hatte Waleran zu einem reichen Mann gemacht. Er war sogar schon zweimal nach Rom
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