Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
sich zur Flucht.
Der Boden unter Alienas Füßen bebte. Noch während sie versuchte, ins Freie zu gelangen, sah sie, dass die hohen Mauern am oberen Rand auseinanderklafften und das Deckengewölbe zerriss. Hilda, die Frau des Gerbers, stürzte vor ihren Füßen zu Boden. Aliena stolperte über den hingestreckten Körper und fiel selbst. Ehe sie sich wieder aufrichten konnte, ging ein Hagel von kleinen Steinen auf sie nieder. Schon zeigte auch das Dach des Seitenschiffs die ersten Risse und stürzte unmittelbar darauf ein. Irgendetwas traf Aliena am Kopf. Ihr wurde schwarz vor Augen.
Voller Stolz und Dankbarkeit hatte Philip den Gottesdienst begonnen. In einem Wettlauf mit der Zeit waren die Deckengewölbe gerade noch termingerecht fertig geworden. Von den vier Jochen waren allerdings erst drei überdacht, da der Bau des vierten erst beendet werden konnte, wenn das Querschiff errichtet und die unregelmäßigen Chorraumwände an dessen Mauern angeschlossen werden konnten. Alles, was bis zum Morgen noch an die Bauarbeiten erinnert hatte, war rücksichtslos fortgeräumt worden: die Werkzeuge, die Steinhaufen und Bauholzstapel, das Flechtwerk und die Pfosten der Gerüste, die Bruchsteine und der Schutt. Der Chor war aufgewischt, die Mauern von den Mönchen weiß getüncht, und über den Mörtel hatte man nach altem Brauch gerade rote Linien gezogen, wodurch das Fugenwerk gleichmäßiger wirkte, als es tatsächlich war. Während Altar und Bischofsthron aus der Krypta heraufgeschafft wurden, hatte man die Gebeine des Heiligen vorerst unten im Sarkophag gelassen – ihre Umbettung war einer feierlichen Zeremonie vorbehalten, der sogenannten ›Translation‹, die den Höhepunkt des Pfingstgottesdienstes bilden sollte. Zu Beginn der Messe – der Bischof saß auf seinem Thron, die Mönche standen in neuen Kutten hinter dem Altar, die Gläubigen drängten sich im Haupt- und in den Seitenschiffen – war Philip von tiefer Befriedigung erfüllt gewesen und hatte Gott für die erfolgreiche Beendigung des ersten, so wichtigen Bauabschnitts der neuen Kathedrale gedankt.
Dann war seine Hochstimmung allerdings rasch verflogen, weil Waleran gänzlich unerwartet die Erhebung Williams in den Grafenstand verkündet hatte. Es war nur allzu deutlich, was der Bischof mit dem Zeitpunkt der Ankündigung bezweckte: Er wollte ihm, Philip, den Tag seines Triumphs verderben und der Bevölkerung von Kingsbridge in Erinnerung rufen, dass sie noch immer der Gnade und Ungnade ihres grausamen Lehnsherrn ausgeliefert war. Philip grübelte noch nach einer angemessenen Replik, als unvermittelt das Grollen einsetzte.
Es war wie in einem jener Albträume, von denen Philip bisweilen heimgesucht wurde: Da ging er hoch oben auf dem Baugerüst entlang und fühlte sich vollkommen sicher, bis er auf einmal bemerkte, dass sich in einem Seil, das die Gerüstbalken zusammenhielt, ein Knoten gelockert hatte. Es war nichts Ernstes – doch wenn er sich dann bückte, um den Knoten wieder festzuzurren, kippte das Brett unter seinen Füßen – nicht weit, aber doch so stark, dass er stolperte, das Gleichgewicht verlor und plötzlich mit rasender, Übelkeit erregender Geschwindigkeit in den weiten Kirchenraum hinabstürzte – im sicheren Bewusstsein seines unmittelbar bevorstehenden Todes.
Das Grollen war Philip zunächst ein Rätsel. Im ersten Moment glaubte er, ein Gewitter sei aufgezogen, doch das Donnern wurde immer lauter, und die Menschen in der Kirche hörten auf zu singen. Noch immer hielt Philip es für ein Phänomen, das sich rasch erklären würde und allenfalls dazu angetan war, den Gottesdienst zu stören. Dann sah er auf.
Im dritten Joch, wo das Baugerüst erst am Morgen entfernt worden war, erschienen hoch oben im Lichtgaden mehrere Risse im Mauerwerk. Urplötzlich waren sie da und vermehrten sich blitzartig wie züngelnde Schlangen, bis sie sich von einem Fenster zum anderen zogen. Philip empfand eine gewisse Enttäuschung: Er war so froh über die Vollendung des Chorhauses gewesen – und nun standen schon die ersten Reparaturen an. Er malte sich schon aus, was die Leute sagen würden, die von der Leistung der Baumeister bisher so beeindruckt gewesen waren: Eile mit Weile … Doch da begannen auf einmal die Mauern der Kirche zu zittern, und mit heillosem Entsetzen erkannte Philip, dass von einer bloßen Unterbrechung des Gottesdienstes keine Rede sein konnte: Es bahnte sich eine Katastrophe an.
Nun zeigten sich auch an den
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