Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth

Titel: Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
Vom Netzwerk:
erkannte jetzt, dass es sich um jene Geburtsschmerzen handeln musste, die gemeinhin als Wehen bezeichnet wurden. Sie vergaß Alfred. Sie war im Begriff zu gebären und hatte entsetzliche Angst, es alleine durchstehen zu müssen. Sie brauchte Beistand. Ich muss zur Kirche gehen und jemanden holen, dachte sie.
    Sie schwang die Beine auf den Boden. Die nächste Wehe kam und schüttelte sie durch. Mit schmerzverzerrtem Gesicht blieb sie sitzen, bis es vorüber war. Dann stand sie auf und verließ das Haus.
    Sie torkelte die schmutzige Straße entlang, und die aberwitzigsten Gedanken schossen ihr durch den Kopf. An der Klosterpforte wurde sie von der nächsten Wehe heimgesucht. Sie musste sich an die Mauer lehnen und die Zähne zusammenbeißen. Als der Schmerz nachließ, betrat sie den Kirchhof.
    Fast die gesamte Bevölkerung der Stadt drängte sich unter dem hohen Gewölbe des Chorhauses und den niedrigen Gewölben der Seitenschiffe. Am gegenüberliegenden Ende befand sich der Altar. Die neue Kirche bot einen seltsamen Anblick: Später sollte der gewölbten Steindecke noch ein dreieckiges Holzdach aufgesetzt werden – augenblicklich wirkte es ungeschützt wie ein Glatzkopf ohne Hut. Die Menschen wandten Aliena den Rücken zu.
    Sie hatte die Kathedrale noch nicht erreicht, da erhob sich Waleran Bigod, der Bischof, und setzte zu einer Rede an. Dass neben ihm William Hamleigh stand, kam Aliena wie ein Albtraum vor. Trotz ihrer Pein verstand sie jedes Wort.
    »… verkünde ich Euch mit Stolz und großer Freude, dass Stephan, unser gnädiger Herr, Lord William zum Grafen von Shiring ernannt hat.«
    Aliena vergaß vor Entsetzen Schmerz und Angst. Sechs Jahre lang, seit jenem schrecklichen Tag, da sie ihren Vater im Verlies zu Winchester besucht hatte, war ihr ganzes Leben und Streben von dem Ziel beherrscht gewesen, wieder in den Besitz des familiären Erbes zu gelangen. Sie und ihr Bruder hatten Raub und Vergewaltigung, Feuersbrunst und Bürgerkrieg überstanden, und mehrere Male schien der Lohn für all ihre Mühen in greifbare Nähe gerückt. Jetzt war auf einmal alles verloren.
    Ein ärgerliches Raunen erhob sich unter den Gläubigen. Da war kaum einer, der unter William nicht gelitten hatte, und alle lebten sie noch in Furcht vor ihm. Dass der König, der sie eigentlich beschützen sollte, ausgerechnet diesem Mann nun eine besondere Ehre zukommen ließ, missfiel ihnen sehr. Aliena hielt nach Richard Ausschau; sie wollte wissen, wie er diesen letzten, entscheidenden Schlag gegen die Familie aufnahm. Aber sie konnte ihn nirgends entdecken.
    Prior Philip erhob sich, das Gesicht wie vom Donner gerührt, und stimmte den Choral an. Halbherzig sang die Gemeinde mit. Von einer neuerlichen Wehe gepackt, lehnte Aliena sich an einen Pfeiler. Da sie ganz hinten stand, nahm niemand von ihr Notiz. Die schlimme Neuigkeit hatte sie seltsamerweise beruhigt. Ich bekomme ein Kind, dachte sie, so etwas geschieht doch jeden Tag. Ich muss jetzt nur noch Martha oder Richard finden. Sie werden schon dafür sorgen, dass alles gut geht.
    Aliena wartete, bis der Schmerz abgeklungen war, und drängte sich dann durch die Menge, um Martha zu finden. Sie entdeckte eine Gruppe von Frauen im nördlichen Seitenschiff und hielt, von neugierigen Blicken verfolgt, auf sie zu. Da wurde die Aufmerksamkeit der Menschen in der Kirche auf einmal von einem seltsamen Geräusch abgelenkt, das wie entferntes Donnergrollen klang. Zunächst übertönte es kaum den Gesang, doch dann wurde es lauter und lauter, und der Choral erstarb.
    Aliena trat zu den Frauen, die sich ängstlich umsahen, weil sie nicht wussten, woher der Lärm kam. Sie berührte eine Schulter und fragte: »Habt Ihr meine Schwägerin Martha gesehen?«
    Die Frau drehte sich um. Es war Hilda, das Weib des Gerbers. »Ich glaube, Martha steht drüben, auf der anderen Seite«, sagte sie und sah sogleich wieder weg. Das Grollen war inzwischen ohrenbetäubend.
    Aliena folgte ihrem Blick. Alles starrte jetzt nach oben und auf die Mauern. In den Seitenschiffen reckten die Menschen die Hälse und lugten unter den Rundbogen hervor. Irgend jemand kreischte auf. Aliena sah, wie sich am anderen Ende der Kirche zwischen zwei Fenstern des Obergadens ein Riss bildete. Im nächsten Augenblick stürzten mehrere riesige Mauerstücke aus großer Höhe in die Tiefe und fielen auf die Menge in der Kirchenmitte. Schreie und Rufe ertönten, und mit einem Mal herrschte ein unbeschreibliches Durcheinander. Wer konnte, wandte

Weitere Kostenlose Bücher