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Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth

Titel: Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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ihre Prozession um die halbkreisförmige, ganz neue Apsis fort. Auf dieser Seite befanden sich die Bauhütten, die nun von der hereinbrechenden Menschenmasse hinweggefegt zu werden drohten, zumal die ersten Bischöfe der Prozession schon wieder im Kloster verschwanden und viele Zuschauer daraufhin noch entschiedener nach vorn drängelten. Die Ritter des Königs schlugen jetzt kräftiger zu.
    Jack sah es mit Unbehagen. »Das gefällt mir gar nicht«, sagte er zu Aliena.
    »Ich wollte eben das Gleiche sagen«, gab sie zurück. »Sehen wir doch besser zu, dass wir hier rauskommen.«
    Ehe sie sich jedoch entfernen konnten, brach ganz vorne eine Rauferei zwischen den Rittern und einigen Jugendlichen aus. Die Männer des Königs hieben blindwütig mit ihren Prügeln um sich, worauf die Jugendlichen nicht etwa kuschten, sondern zum Gegenangriff übergingen – genau in dem Moment, da der letzte Bischof eilends im Kreuzgang verschwand. Kaum waren die frommen Männer außer Sicht, galt die Aufmerksamkeit der Menge nur noch den Bütteln des Königs. Ein Stein traf einen der Männer an der Stirn. Die Zuschauer begrüßten seinen Sturz mit lautem Gejohle. Von der Westseite der Kirche stürmten weitere Bewaffnete herbei und eilten ihren Kameraden zu Hilfe.
    Was als einfacher Raufhändel begonnen hatte, verwandelte sich zusehends in einen regelrechten Aufruhr.
    Jack wusste, dass sich die aufgebrachte Menge auch von der bevorstehenden Zeremonie nicht mehr ablenken lassen würde. Die Bischöfe stiegen in diesem Augenblick mit dem König in die Krypta hinab, um die Gebeine des heiligen Dionysius heraufzuholen und feierlich durch den Kreuzgang zu tragen. Vor Ende des Gottesdienstes würde sich kein Würdenträger mehr der Menge zeigen. Abbé Suger hatte offensichtlich nicht mit dermaßen vielen Zuschauern gerechnet und daher auch für keinerlei Ablenkung gesorgt. Die Menschen waren unzufrieden und erhitzt – mittlerweile stand die Sonne schon hoch am Himmel – und suchten nach einem Ventil für ihren Ärger.
    Zunächst kam den Männern des Königs zugute, dass sie – im Gegensatz zu ihren Widersachern – bewaffnet waren. Dann aber kam einer der Zuschauer auf die glänzende Idee, die Bauhütte aufzubrechen und nach Waffen zu durchsuchen. Zwei junge Leute traten die Tür der Steinmetzhütte ein und kamen kurz darauf mit Hämmern bewaffnet heraus. Mehrere Steinmetzen versuchten vergeblich, die Leute von ihrem Tun abzuhalten – sie wurden einfach beiseitegestoßen.
    Jack und Aliena versuchten, sich aus der Menge zu lösen, fanden sich jedoch hilflos eingekeilt. Jack hielt Tommy fest an seine Brust gedrückt. Mit den Armen schützte er den Rücken des Kleinen und mit den Händen den Kopf. Gleichzeitig bemühte er sich, Aliena nicht zu verlieren. Er sah, wie ein kleiner Mann mit verschlagenem Gesichtsausdruck und schwarzem Bart die Statue der weinenden Dame aus der Steinmetzhütte entwendete. Die habe ich zum letzten Mal gesehen, dachte Jack betrübt.
    Auch die Hütte der Zimmerleute wurde aufgebrochen. Die Handwerker hatten inzwischen alle Hoffnung aufgegeben, ihre Hütten schützen zu können. Als uneinnehmbar erwies sich lediglich die Schmiede. An deren Statt zertrümmerte die Menge die dünnen Wände der Dachdeckerhütte und bemächtigte sich der schweren und gefährlich scharfen Werkzeuge, die zum Zurichten und Festnageln der Bleiplatten dienten. Wenn das so weitergeht, gibt es Tote, dachte Jack.
    So sehr er sich auch dagegen sträubte – er wurde unaufhaltsam auf das Nordportal der Kirche zu gedrängt, wo die Kämpfe am allerheftigsten tobten. Dem schwarzbärtigen Dieb erging es nicht anders: Zwar versuchte er, mit seiner Beute zu entkommen, und drückte die Statue ebenso an die Brust wie Jack seinen Sohn, aber anstatt sich aus der Masse zu befreien, wurde er unaufhaltsam weiter in den Strudel hineingezogen.
    Da hatte Jack einen Geistesblitz. Er übergab den kleinen Tommy Aliena und sagte: »Halt dich dicht bei mir!« Dann fasste er den Dieb beim Schlafittchen und entrang ihm die Statue. Der Mann leistete nur schwachen Widerstand, denn Jack war ein gutes Stück größer als er; außerdem wollte er jetzt seine Haut retten und war an der Statue gar nicht mehr besonders interessiert.
    Jack hob die Statue hoch über seinen Kopf und schrie: »Erweist der Madonna die Ehre!« Zunächst beachtete ihn niemand, doch dann wandten sich ihm ein oder zwei Köpfe zu. »Rührt die Muttergottes nicht an!«, brüllte er aus Leibeskräften.

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