Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
wurden von Mönchen oder Handwerkern geführt. Alle zeigten sich gebührend beeindruckt von der neuen leichten Bauweise und von der Wirkung des Sonnenlichts, das durch die riesigen Buntglasfenster einfiel. Da kaum ein wichtiger Kirchenführer Frankreichs fehlte, kam Jack bald zu der Überzeugung, dass der neue Baustil rasch Schule machen würde – ein Steinmetz, der von sich sagen konnte, er habe in Saint-Denis gearbeitet, würde sich fortan nicht über Arbeitsmangel zu beklagen haben.
Und das galt nicht zuletzt für ihn selbst. Seine Aussichten, selbst einmal eine Kathedrale entwerfen und bauen zu können, stiegen in diesen Tagen ganz gewaltig.
Am Samstag traf König Ludwig in Begleitung seiner Gemahlin und seiner Mutter ein; sie bezogen das Haus des Abtes. In der Nacht zum Sonntag wurden bis zur Morgendämmerung ununterbrochen Messen gesungen. Bis zum Sonnenaufgang hatte sich bereits eine große Menschenmenge vor der Kirche eingefunden – Bürger aus Paris und Bauern von nah und fern –, die nun auf die vermutlich größte Versammlung mächtiger Persönlichkeiten aus Adel und Kirche wartete, die sie je in ihrem Leben zu Gesicht bekommen würde. Nachdem Tommy gestillt war, schlossen sich auch Jack und Aliena der Menge an. Eines Tages, dachte Jack, werde ich zu meinem Sohn sagen können: Du erinnerst dich zwar nicht mehr daran, aber als du gerade ein Jahr alt warst, hast du schon den König von Frankreich gesehen.
Sie hatten sich Brot und Apfelwein mitgebracht und vertrieben sich die Wartezeit vor Beginn der Spektakels mit einem herzhaften Frühstück. Dem Volk war das Betreten der Kirche natürlich untersagt, und dafür, dass dieses Verbot auch eingehalten wurde, sorgten die Waffenträger des Königs. Doch alle Kirchentüren standen weit offen, und wo immer sich ein Blick ins Innere erhaschen ließ, bildeten sich Menschentrauben. Im Mittelschiff drängten sich die Damen und Herren aus dem Adel. Dank der erhöhten Stellung des Altars über der Krypta konnte Jack die Zeremonie verfolgen.
Am anderen Ende des Langhauses rührte sich etwas. Die versammelte Noblesse verneigte sich tief. Über ihre gebeugten Köpfe hinweg sah Jack, wie von Süden her der König die Kirche betrat. Sein Gesicht war auf diese Entfernung nicht zu erkennen, aber die auffallende Farbe seines Purpurmantels kennzeichnete ihn deutlich genug. Er betrat die Vierung und kniete vor dem Hauptaltar nieder.
Unmittelbar darauf erfolgte der Einzug der Bischöfe und Erzbischöfe, alle in goldbestickten, strahlend weißen Gewändern, in den Händen den zeremoniellen Krummstab. Der Krummstab war im Grunde nur ein einfacher Hirtenstab, doch da die meisten von ihnen mit herrlichen Juwelen geschmückt waren, glitzerte die Prozession wie ein Bergbach im Sonnenlicht.
Gemessen schritten sie durch die Kirche und stiegen die Stufen zum Chor empor, wo sie die ihnen bestimmten Sitze um ein Becken einnahmen, in das man während der Vorbereitungen auf das Fest eimerweise Weihwasser geschüttet hatte. Dann wurden Gebete gesprochen und Choräle gesungen. Für die Menge draußen gab es dabei nichts zu sehen, sodass sie unruhig wurde. Auch Tommy begann sich zu langweilen. Schließlich erhoben sich die Bischöfe, und die Prozession setzte sich erneut in Bewegung.
Sie verließen die Kirche durch das Südportal und verschwanden zur Enttäuschung der Menge im Kreuzgang. Später verließen sie den Klosterbereich wieder und zogen in langer Reihe am Hauptportal vorbei. Jeder Bischof trug nun eine kleine Bürste – Weihwedel genannt – sowie einen Weihwasserkessel in den Händen. Singend zogen sie um die Kirche, tauchten die Weihwedel ins Weihwasser und besprenkelten damit die Mauern.
Die Zuschauermenge geriet in Bewegung – alles drängte sich vor, in der Hoffnung auf eine Segnung durch die heiligen Männer oder auf die Gelegenheit, eines der schneeweißen Gewänder zu berühren. Die Bewaffneten des Königs schlugen die Leute mit Stöcken zurück. Jack hielt sich in sicherer Entfernung – er wollte keinen Segen und zog es vor, den Stöcken nicht zu nahe zu kommen.
Majestätisch zog die Prozession an der Nordseite der Kirche vorbei, und die Menge folgte ihr ungeachtet dessen, dass sie dabei über den Friedhof trampelte. Manche Zuschauer hatten schon von vornherein hier Platz bezogen und stemmten sich nun dem Druck der Nachdrängenden entgegen. Hier und da kam es zu einem kleinen Handgemenge.
Die Bischöfe hatten das Nordportal hinter sich gelassen und setzten
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