Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
Den Umstehenden ward auf einmal unheimlich zumute; sie traten zurück und verschafften ihm damit ein wenig Freiraum. Jack seinerseits fand Gefallen an seiner Rolle. »Es ist eine Sünde, das Bildnis der Jungfrau Maria zu entweihen!« Er setzte sich, die Statue noch immer hoch über den Kopf haltend, in Bewegung und schritt auf die Kirche zu. Vielleicht klappt’s, dachte er. Zahlreiche Raufbolde hielten inne, um zu sehen, was da vor sich ging.
Mit einem Blick vergewisserte er sich, dass Aliena ihm folgte – sie konnte ohnehin nicht anders, da sie von der nachfolgenden Menge geschoben wurde. Der Aufruhr kam rasch zum Erliegen. Die Menge folgte jetzt Jack, und manche Leute begannen, seine Worte ehrfürchtig zu wiederholen: »Es ist die Muttergottes«, murmelten sie. »Gegrüßet seist du, Maria … Macht Platz für das Bildnis der Madonna …« Sie hatten nur ein Schauspiel gewollt – und Jack erfüllte ihnen diesen Wunsch. Es gab nur noch ein oder zwei Rempeleien am Rande des Kirchplatzes. Jack war ganz verblüfft: Wie leicht es ihm gefallen war, dem Aufruhr ein Ende zu setzen! Feierlich schritt er weiter. Die Menge wich ehrfürchtig zur Seite und ließ ihn ungehindert das Nordportal erreichen, wo er die Statue voller Ehrerbietung im Schatten abstellte. Sie maß nicht viel mehr als zwei Fuß und wirkte, da sie nun auf dem Boden stand, erheblich weniger beeindruckend als zuvor.
Das Volk versammelte sich erwartungsvoll um das Portal. Jack wusste nicht, was er tun sollte. Erwarten sie vielleicht, dass ich eine Predigt halte, dachte er. Mit seinem feierlichen Schritt und den klangvollen Mahnungen, die er von sich gegeben hatte, waren seine priesterlichen Fähigkeiten erschöpft. Hoffentlich tun sie mir nichts an, wenn ich sie jetzt enttäusche, dachte er beklommen.
Plötzlich ging ein Raunen durch die Menge.
Jack drehte sich um. Ein paar Adlige aus der Kirche waren ins Portal getreten und sahen hinaus, doch er konnte nichts an ihnen entdecken, was das offenkundige Staunen der Zuschauer gerechtfertigt hätte.
»Ein Wunder!«, ertönte es plötzlich, und der Schrei vervielfältigte sich: »Ein Wunder! Ein Wunder!«
Jacks Blick fiel auf die Statue, und auf einmal war ihm alles klar: Wasser tropfte aus ihren Augen. Im ersten Moment war er ebenso verblüfft wie die Menschen; dann fiel ihm seine eigene Erklärung wieder ein: dass die Dame nur dann weinte, wenn sich die Luft rasch abkühlte. Die Statue war aus der vormittäglichen Hitze in die schattige Kühle des Nordportals getragen worden – und bestätigte mit ihren Tränen Jacks Vermutung. Die ahnungslosen Zuschauer sahen nur, dass eine hölzerne Statue Tränen vergoss – und hielten es für ein Wunder.
Eine Frau, die in vorderster Reihe stand, warf der Statue einen Denier zu Füßen, einen französischen Silberpfennig. Jack hätte beinahe laut herausgelacht: Welchen Sinn hatte es schon, einem Stück Holz Geld zu geben? Aber die Kirche hatte die Leute dazu erzogen, für alles, was heilig war, Geld herauszurücken, sodass es fast wie von selbst geschah. Viele andere folgten dem Beispiel der Frau.
Jack war noch nie der Gedanke gekommen, aus Raschids Spielzeug Geld zu schlagen. Auch war ihm sofort klar, dass kein Mensch auch nur einen Heller springen ließe, wenn er Anlass zu der Vermutung hätte, das Geld flösse in Jacks eigene Taschen. Aber für eine Kirche war die Statue ein Vermögen wert!
Mit einem Mal wusste er genau, was er zu tun hatte.
Noch bevor ihm die Folgen seiner Worte klar waren, begann er auch schon zu sprechen – so, wie es ihm gerade einfiel. »Die Weinende Madonna ist Gottes Eigentum, nicht meines«, begann er, und die Menschen lauschten ihm andächtig: Das war die Predigt, auf die die Leute gewartet hatten! Hinter Jack, in der Kirche, stimmten die Bischöfe ihren Gesang an, für den sich jetzt außerhalb der Kirche kein Mensch mehr interessierte.
»Viele hundert Jahre lang musste sie im Land der Sarazenen darben und schmachten«, fuhr Jack fort. (Er hatte keine Ahnung, was es mit dem Schicksal der Statue wirklich auf sich hatte, aber das war ihm im Augenblick unwichtig: Selbst der Klerus hütete sich im Allgemeinen davor, dem Wahrheitsgehalt von Wunderlegenden und Heiligenreliquien allzu genau auf den Grund zu gehen.) »Sie hat eine weite Reise über viele hundert Meilen hinter sich, aber sie ist noch immer nicht am Ende dieser Reise angelangt. Ihr Ziel ist die Kathedrale von Kingsbridge in England.«
Er fing einen Blick von Aliena
Weitere Kostenlose Bücher