Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
auf und musste sich beherrschen, um ihr nicht zuzublinzeln und damit zu verraten, dass seine Rede blanke Erfindung war, geboren aus einer Augenblickseingebung.
»Es ist meine heilige Mission, die Weinende Madonna nach Kingsbridge zu bringen. Dort, am Bestimmungsort ihrer Reise, wird sie ihre Ruhe und ihren Frieden finden.« Wieder sah er Aliena an, und dabei kam ihm die letzte und großartigste Eingebung, die er auch sogleich kundtat: »Ich bin zum Dombaumeister der neuen Kirche von Kingsbridge ernannt worden.«
Alienas Unterkiefer fiel herab, und Jack wandte den Blick ab. »Die Weinende Madonna hat befohlen, dass in Kingsbridge für sie eine neue, schönere Kirche errichtet werde, und mit ihrer gnädigen Hilfe werde ich einen Tempel erschaffen, der dem neuen Chorraum, der hier in Saint-Denis für die Gebeine des heiligen Dionysius gebaut worden ist, in nichts nachsteht.«
Er sah zu Boden, und beim Anblick der Münzen kam ihm der richtige Einfall für die Beendigung seiner Rede. »Eure Spenden«, sagte er, »werden zum Bau der neuen Kirche beitragen. Jedem Mann, jeder Frau und jedem Kind, die mit ihren Opfergaben einen Beitrag zur Errichtung ihrer neuen Heimstatt leisten, erteilt die Madonna ihren Segen.«
Nach einem kurzen Schweigen klimperten zu Füßen der Madonna die Opfermünzen, die die Zuschauer ihr zuwarfen. Dabei murmelten sie »Halleluja!« oder »Gelobt sei der Herr!« oder baten um einen Segen, ja, sogar um ganz bestimmte Wundertaten: »Lass Robert wieder gesund werden!« – »Lass Anne schwanger werden!« – »Schenk uns eine gute Ernte!« Die Gesichter verrieten Aufregung, Hochgefühl und Glück. Sie drängten vorwärts und rempelten einander an in ihrem Eifer, der Weinenden Madonna Silberpfennige zu opfern. Und Jack sah staunend zu, wie der Geldregen allmählich seine Füße bedeckte wie angewehter Schnee.
In jeder Stadt, in jedem Dorf, die sie auf dem Weg nach Cherbourg passierten, erzielte die Weinende Madonna die gleiche Wirkung. Sobald die Prozession durch die jeweilige Hauptstraße begann, folgten die Menschen in Scharen. Vor der Kirche warteten sie, bis sich alle Leute versammelt hatten. Danach trugen sie die Statue ins kühle Innere der Kirche, wo sie ihre Tränen vergoss – mit dem Erfolg, dass sich die Menschen in ihrem Eifer, für den Bau der Kathedrale in Kingsbridge Geld zu spenden, beinahe überschlugen.
Gleich zu Beginn hätten sie die Statue beinahe verloren. Die in Saint-Denis versammelten Bischöfe und Erzbischöfe hatten sie eingehend untersucht und für wahrhaft wundertätig erklärt, worauf Abbé Suger sie für seine Kirche erwerben wollte. Er hatte Jack erst ein Pfund, dann zehn und schließlich sogar fünfzig Pfund geboten. Als ihm klar wurde, dass es Jack nicht um Geld ging, hatte er gar damit gedroht, ihm die Statue gewaltsam wegzunehmen, wurde jedoch vom Erzbischof Theobald von Canterbury daran gehindert. Theobald, der die Fähigkeit der Statue, Tränen in bares Geld zu verwandeln, nicht minder klar erkannt hatte, wollte, dass sie nach Kingsbridge kam, denn Kingsbridge gehörte zu seinem Erzbistum. Suger hatte sich ungnädig gefügt, nicht ohne dabei mit plumpen Andeutungen die Echtheit des Wunders erneut in Frage zu stellen.
Jack hatte unter den Handwerkern in Saint-Denis verbreitet, er werde jeden einstellen, der ihm nach Kingsbridge folgen wolle. Auch davon war Suger nicht eben erbaut. Die meisten von ihnen würden sich zwar an das Prinzip halten, dass der Spatz in der Hand besser ist als die Taube auf dem Dach, und bleiben; aber es gab auch einige unter ihnen, die aus England stammten und der Versuchung, in die Heimat zurückzukehren, nicht widerstehen mochten. Außerdem würden alle die Kunde vom Dombau verbreiten, denn es gehörte zu den Pflichten eines jeden Steinmetzen, seinen Zunftbrüdern von neuen Bauhütten zu berichten. Innerhalb weniger Wochen würden Steinmetze aus allen Ländern der Christenheit unterwegs nach Kingsbridge sein … Aliena fragte Jack, was er zu tun gedenke, sollte ihn das Kloster von Kingsbridge nicht zum Dombaumeister ernennen. Er konnte ihr keine Antwort geben. Seine Ankündigung war einer Augenblickseingebung gefolgt, und er hatte noch keine Pläne für den Fall, dass etwas schiefging.
Erzbischof Theobald, der die Weinende Madonna für England beanspruchte, war nicht gewillt, Jack ohne Aufsicht weiterziehen zu lassen. Er stellte zwei Priester aus seinem Gefolge zur Begleitung von Jack und Aliena ab. Jack hatte das zuerst
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