Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
rechnete angesichts der Umstände der Kindesaussetzung nicht mit Schwierigkeiten, aber eine gewisse Vorsicht konnte sicher nicht schaden. Er nickte zustimmend und folgte Ellen ins Unterholz. Kurz darauf lagen sie gut versteckt am Rande der Lichtung.
Es war ein sehr kleines Kloster. Tom hatte Erfahrungen im Klosterbau und nahm daher an, dass es sich um eine sogenannte Zelle handelte, die Zweig- oder Außenstelle einer größeren Abtei. Es verfügte lediglich über zwei Steinhäuser, die Kapelle und das Dormitorium. Alles andere – eine Küche, die Ställe und verschiedene andere landwirtschaftliche Gebäude – bestand aus Holz oder mit Lehm beworfenem Flechtwerk. Häuser und Umgebung wirkten sauber und gepflegt; man gewann den Eindruck, dass die Mönche ebenso viel Zeit bei der Arbeit wie beim Gebet verbrachten.
Es waren nicht viele Leute zu sehen. »Die meisten Mönche sind bei der Arbeit«, sagte Ellen. »Sie errichten dort hinten auf dem Hügel eine Scheune.« Sie spähte himmelwärts. »Zum Mittagessen werden sie zurückkommen.«
Tom sah sich die Lichtung genauer an. Zur Rechten, teilweise verdeckt durch eine kleine Herde angepflockter Ziegen, fielen ihm zwei Gestalten auf. »Sieh mal dort!«, sagte er zu Ellen und wies mit dem Finger auf die beiden Menschen. »Der eine, der da sitzt, das ist ein Priester«, sagte er, »und er …«
»… er hat etwas auf seinem Schoß.«
»Wir müssen näher heran.«
Im Schutz der Bäume schlichen sie um die Lichtung herum, bis sie sich schließlich ungefähr auf gleicher Höhe mit den Ziegen befanden. Tom klopfte das Herz bis zum Hals, als er den Priester auf seinem Hocker genauer ins Auge fasste. Der Mann hielt ein Kind auf dem Schoß. Mein Sohn, dachte Tom und spürte einen Kloß im Hals. Es stimmte, es stimmte wirklich! Mein Sohn ist noch am Leben! Am liebsten wäre er dem Priester um den Hals gefallen.
Neben dem Priester kniete ein junger Mönch. Beim näheren Hinsehen erkannte Tom, dass der junge Mann ein Tuch in einen Eimer tauchte und dann dem Kind einen vermutlich mit Ziegenmilch getränkten Zipfel in den Mund steckte.
»Wohlan«, sagte Tom nicht ohne Beklemmung. »Ich werde mich jetzt zu erkennen geben, meine Schuld bekennen und meinen Sohn wieder zu mir nehmen.«
Ellen sah ihn kritisch an. »Augenblick, Tom! Denk erst einmal nach, was dann geschehen soll.«
Er wusste nicht genau, worauf sie hinauswollte. »Ich werde die Mönche um Milch bitten«, sagte er. »Dass ich ein armer Mann bin, sieht man mir an. Sie geben Almosen.«
»Und danach?«
»Nun, ich hoffe, sie geben mir genug Milch für drei Tage, sodass ich damit bis Winchester komme.«
»Und danach?« Sie ließ nicht locker. »Womit willst du das Kind dann ernähren?«
»Nun ja – ich werde mir eine Arbeit suchen …«
»Seit unserer ersten Begegnung im vergangenen Herbst bist du ununterbrochen auf Suche nach Arbeit«, sagte Ellen. Sie schien sich ein wenig über ihn zu ärgern, und Tom wusste nicht, warum. »Du hast weder Geld noch Werkzeug«, fuhr sie fort. »Was wird mit dem Kind geschehen, wenn du auch in Winchester keine Arbeit findest?«
»Ich weiß es nicht.« Ihr harter Ton tat ihm weh. »Was soll ich denn tun? Vielleicht so leben wie du? Ich kann keine Enten mit Steinschleudern erlegen – ich bin Steinmetz.«
»Du könntest das Kind hierlassen.«
Tom war, als hätte ihn der Blitz getroffen. »Hierlassen? Wo ich es gerade erst wiedergefunden habe?«
»Hier ist dein Sohn gut aufgehoben. Er hat es warm und bekommt genug zu trinken. Du brauchst ihn auf der Arbeitssuche nicht mit dir herumzuschleppen – und wenn du was gefunden hast, kannst du zurückkommen und das Kind holen.«
Alles in Tom sträubte sich gegen diesen Vorschlag. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Die Mönche müssten mich ja für einen Rabenvater halten …«
»Sie wissen ohnehin, dass du es ausgesetzt hast«, erwiderte Ellen ungeduldig. »Ob du es nun heute eingestehst oder später.«
»Können Mönche überhaupt mit so kleinen Kindern umgehen?«
»So gut wie du allemal.«
»Ich habe da meine Zweifel.«
»Immerhin haben sie schon herausgefunden, wie man einen Säugling ohne Amme füttern kann.«
Sie hatte ihn schon fast überzeugt. Sosehr Tom sich auch danach sehnte, das kleine Bündel in die Arme zu schließen – er konnte nicht leugnen, dass ein neugeborenes Kind bei den Mönchen besser aufgehoben war als bei ihm. Er hatte weder Nahrung noch Geld und nur wenig Hoffnung auf Arbeit. »Lassen wir ihn
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