Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
gehört. Gib den Kindern jetzt auch von der Suppe.«
Jack war noch nicht überzeugt, doch tat er, was seine Mutter ihm aufgetragen hatte. Ellen reichte Tom eine Schüssel mit Suppe. Er setzte sich auf den Boden und schlürfte sie in sich hinein. Sie schmeckte nach Fleisch und wärmte ihn innerlich. Ellen legte ihm ein Fell um die Schultern. Als er die Flüssigkeit ausgetrunken hatte, fischte Tom Fleisch und Gemüse mit den Fingern heraus. Wann habe ich zum letzten Mal Fleisch gegessen, fragte er sich. Es muss Wochen her sein. Es schmeckte nach Ente – wahrscheinlich hatte Jack das Tier mit seiner Steinschleuder erlegt.
Sie aßen den ganzen Topf leer. Als sie satt waren, legten Alfred und Martha sich auf das Schilf. Bevor sie einschliefen, sagte Tom ihnen noch, dass er mit Ellen zusammen nun den Priester aufsuchen wolle und dass Jack bis zu ihrer Rückkehr dableiben und auf sie aufpassen würde. Die beiden erschöpften Kinder nickten zustimmend und schlossen die Augen.
Tom und Ellen verließen die Höhle. Tom trug den Pelz, den sie ihm über die Schultern gelegt hatte. Sie hatten das Brombeerdickicht kaum hinter sich, als Ellen auch schon stehen blieb, sich Tom zuwandte, seinen Kopf zu sich herabzog und ihn auf den Mund küsste.
»Ich liebe dich«, sagte sie voller Leidenschaft. »Ich liebe dich, seit ich dich zum ersten Mal sah. Ich habe mir immer einen Mann gewünscht, der sowohl stark als auch zärtlich ist, und ich dachte schon, dass es so etwas gar nicht gibt. Doch dann sah ich dich. Ich wollte dich, aber ich sah, dass du deine Frau geliebt hast. Mein Gott, wie habe ich sie beneidet. Es tut mir leid, dass sie sterben musste, wirklich, denn ich sehe die Trauer in deinen Augen und all die Tränen, die darauf warten, vergossen zu werden. Es bricht mir das Herz, dich so traurig zu sehen. Aber nun, da deine Frau von dir gegangen ist, will ich dich für mich haben.«
Tom wusste nicht, was er sagen sollte. War es möglich, dass eine so schöne, kluge und selbstständige Frau sich gleichsam auf den ersten Blick in ihn verliebt hatte? Kaum zu glauben. Und noch schwerer fiel es ihm, seine eigenen Gefühle zu beschreiben. Er litt furchtbar unter dem Verlust seiner Frau. Es stimmte nur zu sehr, was Ellen gesagt hatte: Er spürte den Druck der unvergossenen Tränen hinter seinen Augen. Auf der anderen Seite verzehrte ihn die Sehnsucht nach Ellen mit ihrem heißen Körper, ihren goldenen Augen und ihrer schamlosen Lust. Doch Agnes war erst seit ein paar Stunden unter der Erde. Er schämte sich seiner eigenen Begehrlichkeit.
Er starrte Ellen an, und ihre Augen sahen einmal mehr in seine Seele hinein. »Du brauchst jetzt nichts zu sagen, aber du brauchst dich auch nicht zu schämen. Ich weiß, dass du sie geliebt hast. Sie hat dich auch geliebt, ich konnte es ihr ansehen. Du liebst sie noch immer, ja, gewiss. Du wirst nie aufhören, sie zu lieben.«
Sie hatte ihm eine Antwort erspart, aber er hätte auch nichts zu antworten vermocht. Diese außergewöhnliche Frau raubte ihm schlichtweg die Sprache. Alles schien besser zu werden – dank ihr. Schon die Tatsache, dass sie offenbar genau wusste, was ihn bedrückte, empfand er als Erleichterung. Ihm war, als gebe es nichts mehr, dessen er sich schämen musste. Er seufzte.
»So ist es gut«, sagte sie und nahm ihn bei der Hand.
Nach einem Marsch von ungefähr einer Meile, der sie durch reinsten Urwald führte, erreichten sie die Straße. Unterwegs riskierte Tom immer wieder Seitenblicke auf Ellen. Er erinnerte sich an ihre erste Begegnung. Damals hatte er noch gemeint, die merkwürdigen Augen beeinträchtigten ihre Schönheit. Inzwischen war es ihm ein Rätsel, wie er je auf diesen Gedanken hatte kommen können. Ihre erstaunlichen Augen erschienen ihm nun als Ausdruck ihrer einzigartigen Persönlichkeit und sie selbst als die Schönheit in Vollendung. Rätselhaft blieb nur, warum sie bei ihm war.
Sie legten weitere drei oder vier Meilen zurück. Tom war zwar nach wie vor müde, doch die Suppe hatte ihm neue Kraft verliehen. Obwohl er Ellen vollständig vertraute, lag ihm daran, sein Kind mit eigenen Augen zu sehen.
Als das Kloster vor ihnen durch die Bäume schimmerte, sagte Ellen zu ihm: »Wir wollen uns den Mönchen nicht sofort zeigen.«
Tom begriff es nicht. »Warum?«, fragte er.
»Du hast einen Säugling ausgesetzt. Das gilt als Mord. Ich schlage vor, wir sehen uns das Kloster erst einmal etwas näher an und schauen, um was für Leute es sich handelt.«
Tom
Weitere Kostenlose Bücher