Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
das offene Feld bemerkte Philip Bruder John, der ihnen vom Ziegenpferch her heftig zuwinkte. Johnny Eightpence – so sein richtiger Name – galt als nicht ganz richtig im Kopf. Warum ist er nur so aufgeregt, fragte sich Philip. Neben Johnny saß ein Mann im Priestergewand, den Philip schon einmal irgendwo gesehen zu haben glaubte. Der Abt beschleunigte seine Schritte.
Der Priester war ein kleiner, untersetzter Mann von ungefähr fünfundzwanzig Jahren mit kurz geschnittenem schwarzem Haar und hellblauen, funkelnden Augen, die eine rasche Auffassungsgabe und einen klaren Verstand verrieten. Philip war, als schaue er in einen Spiegel: Verblüfft erkannte er in dem Priester Francis, seinen jüngeren Bruder.
Und Francis hielt in den Armen ein neugeborenes Kind.
Philip hätte nicht sagen können, was ihn mehr überraschte – Francis oder der Säugling. Inzwischen waren auch die anderen Mönche herangekommen. Francis erhob sich, gab Johnny das Kind und wurde von Philip umarmt.
»Was führt dich hierher?«, fragte Philip freudestrahlend. »Und wie kommst du zu diesem Kind?«
»Über die Gründe meines Kommens lass uns später reden«, erwiderte Francis. »Und was das Kind betrifft – ich habe es gefunden. Im Wald, mutterseelenallein. Es lag neben einem lodernden Feuer …« Er hielt inne.
»Und?«, drängte Philip.
Francis zuckte mit den Schultern. »Mehr kann ich dir auch nicht sagen, denn das ist alles, was ich weiß. Ich wollte eigentlich schon gestern Abend hier sein, schaffte es aber nicht ganz und verbrachte daher die Nacht in der Hütte eines Jagdaufsehers. Heute früh im Morgengrauen machte ich mich wieder auf den Weg. Auf einmal hörte ich gleich neben der Straße ein Kind schreien. Einen Augenblick später sah ich es dann auch. Ich hob es auf und brachte es hierher. Mehr kann ich beim besten Willen nicht dazu sagen.«
Philip betrachtete das winzige Bündel in Johnnys Armen voller Staunen. Vorsichtig streckte er die Hand aus und lüpfte einen Zipfel der Decke, in die das Kind gehüllt war. Er sah ein runzliges, rosafarbenes Gesichtchen mit geöffnetem, zahnlosem Mund und Haaren auf dem Kopf. Er wickelte das Bündel noch ein bisschen weiter auf. Kleine, zarte Schultern, zappelnde Ärmchen und geballte Fäustchen kamen zum Vorschein. Philip sah den Rest der Nabelschnur am Bauch des Kindes und empfand ein leichtes Ekelgefühl dabei. Ist das natürlich, fragte er sich. Es sah aus wie eine gut verheilende Wunde, die man am besten sich selbst überließ. Er zog die Decke noch ein Stückchen weiter zurück. »Ein Junge«, bemerkte er mit verlegenem Hüsteln und deckte das Kind wieder zu. Ein Novize kicherte.
Philip fühlte sich hilflos. Was, um alles in der Welt, soll ich damit, dachte er. Soll ich es stillen?
Der Säugling weinte, und sein Jammern rührte Philips Herz. »Es ist hungrig«, sagte er und dachte bei sich: Woher weiß ich das eigentlich?
Ein Mönch sagte: »Wir können es nicht nähren.«
Philip wollte gerade sagen: Warum nicht? Doch da fiel ihm die Antwort auch schon ein: Es gab weit und breit keine einzige Frau.
Wie sich jedoch herausstellte, hatte Johnny bereits eine Lösung gefunden. Er setzte sich auf den Melkschemel und nahm den Säugling auf den Schoß, in der Hand ein Tuch, dessen einen Zipfel er zusammengezwirbelt hatte. Den tauchte er nun in einen Milchkübel und wartete, bis er mit Flüssigkeit durchtränkt war. Dann steckte er dem Kind den Zipfel in den Mund, und der Kleine begann sofort zu saugen und zu schlucken.
Philip hätte jubeln können. »Das ist wirklich eine gute Idee, Johnny«, sagte er.
Johnny grinste. »Hab ich früher schon mal gemacht«, sagte er stolz. »Bei einem Zicklein, dessen Mutter starb, bevor es entwöhnt war.«
Wie gebannt sahen die Mönche zu, wie Johnny ein zweites Mal die einfache Handlung vollzog. Als er mit dem Tuch die Lippen des Säuglings berührte, öffneten, wie Philip amüsiert feststellte, unwillkürlich auch einige Mönche den Mund. Das Kind auf diese Weise zu ernähren war eine recht langwierige Angelegenheit – aber wahrscheinlich ging es auch unter normalen Umständen nicht wesentlich schneller.
Peter von Wareham, der zunächst der allgemeinen Verwunderung anheimgefallen war und dementsprechend seine Kritik an allem und jedem vorübergehend vergessen hatte, kam wieder zu sich und sagte: »Leichter wäre es wohl, die Mutter des Kindes ausfindig zu machen.«
»Das bezweifle ich«, meinte Francis. »Ich nehme an, die Mutter ist
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