Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
Kleine wohlauf sei; Ellen und Jack hätten einen Priester gesehen, der ihn zu sich genommen hätte. Er und Ellen wollten den Mann später aufsuchen, doch zuvor seien sie bei Ellen zum Essen eingeladen. Alfred und Martha vernahmen die Neuigkeiten ohne große Gemütsbewegung; sie konnte jetzt nichts mehr schrecken. Tom war kaum weniger verwirrt als sie. Sein Leben veränderte sich so schnell, dass er die einzelnen Ereignisse kaum noch nachvollziehen konnte. Ihm war, als säße er auf dem Rücken eines ungestümen Pferdes: Die Dinge flogen nur so an ihm vorbei und gaben ihm keine Möglichkeit, auf sie einzugehen. Er konnte nichts anderes tun, als sich festzuhalten und zu versuchen, bei klarem Verstand zu bleiben. Agnes hatte mitten in der kalten Winternacht ein Kind geboren, das allen Widrigkeiten zum Trotz gesund und munter war. Alles schien in bester Ordnung zu sein, doch dann war Agnes, seine treue Seelengefährtin, in seinen Armen verblutet, und er hatte den Verstand verloren. Das Schicksal des Kindes schien besiegelt, und sie ließen es auf dem Grab zurück. Später hatten sie es vergeblich gesucht. Plötzlich war Ellen vor ihm erschienen, und Tom hatte sie für einen Engel gehalten. Sie hatten sich geliebt wie in einem Traum, und schließlich hatte sie ihm gesagt, dass das Kind lebte und geborgen sei. Würde das Leben ihm je wieder Zeit lassen, über die Flut der Ereignisse nachzudenken?
Sie machten sich auf den Weg. Tom hatte immer geglaubt, dass Verfemte in Schmutz und Elend lebten, doch Ellen passte ganz und gar nicht in dieses Bild. Er fragte sich, wie ihre Wohnung aussehen mochte. Sie führte ihre Gäste kreuz und quer durch den Wald. Es gab weder Weg noch Steg, doch sie bewegte sich mit traumwandlerischer Sicherheit. Sie wusste trockenen Fußes Bäche zu überqueren, duckte sich unter tief hängenden Zweigen, umging einen gefrorenen Sumpf, zwängte sich durch ein dichtes Gebüsch und überkletterte flink den gewaltigen Stamm einer vom Sturm gefällten Eiche. Schließlich erreichten sie ein Brombeergestrüpp, in dem Ellen zu verschwinden schien. Tom folgte ihr und erkannte, dass sich durch das auf den ersten Blick so undurchdringliche Dickicht ein schmaler Pfad wand. Die Dornen schlossen sich über ihren Köpfen zu einem Gewölbe, in dem nur mehr trübes Licht herrschte. Tom blieb stehen und wartete, bis sich seine Augen an die Düsternis gewöhnt hatten. Jetzt erst merkte er, dass er sich in einer Höhle befand.
Die Luft war warm. Vor ihnen glühte auf einem Herd aus flachen Steinen ein Feuer. Der Rauch stieg senkrecht empor; es gab also irgendwo einen natürlichen Abzug. Die Höhlenwand war auf der einen Seite mit einem Wolfsfell und auf der anderen mit einer Hirschdecke bespannt, welche von hölzernen Pflöcken gehalten wurden. Von der Decke herab hing eine geräucherte Wildbretkeule. Tom sah eine selbst gezimmerte Kiste voller Holzäpfel, Binsenlichter auf einem Vorsprung in der Wand. Den Boden bedeckte trockenes Schilf. Am Rand des Feuers stand wie in jedem anderen Haushalt auch ein Kochtopf, in dem, nach dem Geruch zu urteilen, derselbe dicke Eintopf brodelte wie anderswo – Gemüse mit Suppenknochen und Kräutern. Tom war verblüfft: Dieses Heim hier war gemütlicher als die armseligen Hütten vieler Leibeigener.
Auf der anderen Seite des Feuers lagen zwei Matratzen aus Hirschfell, die vermutlich mit Schilf ausgestopft waren. An beiden Kopfenden lag, sorgfältig zusammengerollt, ein Wolfspelz. Das waren die Schlafplätze von Ellen und Jack. Im hinteren Teil der Höhle war eine beachtliche Sammlung von Waffen und Jagdgeräten zu erkennen: ein Bogen, mehrere Pfeile, Netze, Kaninchenfallen, einige gefährlich aussehende Dolche, eine mit großer Sorgfalt gefertigte hölzerne Lanze mit feuergehärteter, scharfer Spitze – und, mitten unter diesen einfachen Gebrauchsgegenständen, auch drei Bücher. Tom traute seinen Augen nicht: Noch nie hatte er in einem privaten Heim – geschweige denn in einer Höhle – Bücher gesehen. Bücher gehörten seiner Meinung nach in die Kirche.
Der Knabe Jack ergriff eine hölzerne Schüssel, tauchte sie in den Kochtopf und begann zu trinken. Alfred und Martha sahen ihm mit knurrendem Magen zu. Ellen bedachte Tom mit einem Blick, der um Nachsicht zu bitten schien. Dann sagte sie zu ihrem Sohn: »Wenn wir Besuch haben, Jack, bekommen die Gäste zuerst.«
Der Junge starrte sie an. Er begriff nicht, was sie damit meinte. »Warum?«
»Weil es zur Gastfreundschaft
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