Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
Engel auf seine Brust sank.
So lagen sie lange Zeit beieinander, und ihr heißer Körper wärmte ihn durch und durch. Er glitt in eine Art Dämmerzustand, mehr Tagträumerei denn Schlaf, und als er die Augen wieder öffnete, war er bei klarem Verstand.
Er betrachtete die junge schöne Frau über sich und wusste sofort, dass es sich nicht um einen Engel handelte, sondern um die verfemte Ellen, die ihnen damals, als der Wegelagerer ihr Schwein geraubt hatte, in diesem Teil der Wälder begegnet war. Sie spürte, dass er sich bewegte, öffnete die Augen und sah ihn an mit einem Blick, in dem sowohl Zuneigung als auch Furcht lag. Tom musste plötzlich an seine Kinder denken. Er schob Ellen sanft von sich und setzte sich auf. Alfred und Martha lagen, in ihre Umhänge gewickelt, im Laub; die Sonne schien auf ihre schlafenden Gesichter. Und wie ein böser Traum waren ihm auf einmal die Ereignisse der vergangenen Nacht wieder gegenwärtig: Agnes war tot, das neugeborene Kind – sein Sohn! – war verschwunden … Er barg sein Gesicht in den Händen.
Ellen stieß einen merkwürdigen Pfiff aus, der aus zwei Tönen bestand. Als Tom aufsah, entdeckte er eine Gestalt zwischen den Bäumen, die sich rasch als Ellens seltsamer Sohn entpuppte, der Knabe Jack mit der leichenblassen Haut, den karottenfarbenen Haaren und den hellen grünen Augen. Tom stand auf und zog seine Kleidung zurecht. Auch Ellen erhob sich und knöpfte ihren Mantel zu.
Der Junge trug etwas in der Hand. Er ging auf Tom zu und zeigte es ihm. Es war der halbe Umhang, in den der Vater den Säugling eingewickelt hatte, bevor er ihn auf dem Grab der Mutter zurückließ.
Tom begriff nicht, was das zu bedeuten hatte. Er starrte erst den Jungen an und dann Ellen. Sie nahm ihn bei den Händen, erwiderte seinen Blick und sagte: »Dein Kind lebt.«
Tom wagte es nicht, ihren Worten Glauben zu schenken. Das wäre einfach zu schön, zu viel des Glücks für diese Welt. »Das kann nicht wahr sein«, sagte er.
»Doch, es ist wahr.«
Hoffnung keimte auf. »Wirklich?«, fragte er. »Wirklich?«
Sie nickte. »Wirklich. Ich werde dich zu ihm führen.«
Tom erkannte, dass sie es ernst meinte. Eine Welle der Erleichterung und des Glücks erfasste ihn. Er fiel auf die Knie, und dann, endlich, konnte er weinen.
+++
»Jack hörte das Kind schreien«, erklärte Ellen. »Er war unterwegs zum Fluss. Nördlich von hier gibt es eine Stelle, wo ein guter Werfer Enten mit Steinen erlegen kann. Er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte, deswegen rannte er nach Hause und holte mich. Doch auf dem Weg dorthin sahen wir einen Priester. Er ritt auf einem Zelter und hielt das Kind im Arm.«
»Ich muss ihn finden …«, fuhr Tom dazwischen.
»Übereile nichts«, erwiderte Ellen. »Ich weiß, wo er sich befindet. Unweit des Grabes deiner Frau bog er von der Hauptstraße ab. Der Pfad führt zu einem kleinen Kloster mitten im Wald.«
»Das Kind braucht Milch.«
»Die Mönche haben Ziegen.«
»Dem Himmel sei Dank«, sagte Tom inbrünstig.
»Ich führe dich hin, sobald ihr etwas zu euch genommen habt«, fuhr Ellen fort. »Aber …« Sie runzelte die Stirn. »Sag deinen Kindern noch nichts von dem Kloster.«
Tom warf einen Blick zurück. Am anderen Rand der Lichtung lagen Alfred und Martha noch immer in tiefem Schlaf. Jack war inzwischen bei ihnen und starrte sie mit jenem leeren Blick an, der für ihn so bezeichnend war. »Warum nicht?«, fragte Tom.
»Ich bin mir nicht sicher … Ich glaube einfach, es ist besser, damit noch ein wenig zu warten.«
»Aber dein Sohn wird es ihnen sagen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Er hat den Priester zwar gesehen, aber ich glaube nicht, dass er daraus die entsprechenden Schlüsse zieht.«
»Na gut.« Tom wurde ernst. »Wenn wir gewusst hätten, dass du in der Nähe bist, hättest du vielleicht meine Agnes retten können.«
Erneut schüttelte Ellen den Kopf, und ihr dunkles Haar umtanzte das Gesicht. »Da gibt es keine Hilfe. Man muss die Frau möglichst warm halten, und das hast du ja getan. Wenn eine Frau innerlich blutet, hört es entweder von selbst auf, und sie erholt sich, oder aber es hört nicht mehr auf, und sie stirbt.« Tränen traten Tom in die Augen, und Ellen fügte hinzu: »Es tut mir so leid.«
Tom nickte trübsinnig.
»Aber die Lebenden müssen sich um die Lebenden kümmern«, fuhr sie fort. »Du brauchst ein warmes Mahl und einen neuen Mantel.« Sie stand auf.
Gemeinsam weckten sie die Kinder. Tom sagte ihnen, dass der
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