Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
und wollte sich offenbar der Statue nähern, doch immer wieder war ihm die Menschenmenge im Wege. Philip trat beiseite, um ihn durchzulassen. Den Sarazenen, die die Leute davon abhielten, die Madonna zu berühren, entging der Krüppel, und Philip sah, wie er die Hand ausstreckte und das hölzerne Kleid berührte. Gleich darauf stieß er einen markerschütternden Schrei aus. »Ich spüre es! Ich spüre es!«
Alles wandte sich ihm zu.
»Ich spüre, wie das Leben in meine Beine zurückkehrt!«, schrie er.
Fassungslos sah Philip ihn an. Er wusste genau, was nun kam: Der Mann beugte zuerst das eine Knie, dann das andere. Die Zuschauer japsten auf. Der Mann streckte eine Hand aus, und irgendwer nahm sie, sodass er sich mühselig aufrichten konnte.
Die Menge stöhnte auf.
»Versucht zu gehen!«, erscholl es.
Noch immer die hilfreiche Hand haltend, versuchte der Mann, einen Schritt zu tun, dann noch einen. Totenstille herrschte. Beim dritten Schritt stolperte er, und alles seufzte. Doch dann hatte er sein Gleichgewicht wiedergefunden und ging weiter.
Die Menge schrie vor Begeisterung.
Der Mann ging aufs Kirchenportal zu, und alles folgte ihm. Schließlich begann er zu laufen, und das Geschrei steigerte sich zu Gejohle. Er trat aus der Kirche in die Sonne hinaus, und die Gemeinde tat es ihm nach.
Philip betrachtete die beiden Geistlichen. Reynold stand mit offenem Mund da, und Edward liefen die Tränen übers Gesicht; sie hatten offenkundig keine Ahnung gehabt. Schäumend vor Zorn wandte sich Philip an Jack: »Wie könnt Ihr es wagen, uns solch einen schmutzigen Streich zu spielen?«
»Was für einen Streich?«
»Dieser Mann dort ist erst vor ein paar Tagen in unserer Gegend aufgetaucht, und bis dahin hat ihn noch nie jemand gesehen. In ein oder zwei weiteren Tagen wird er auf Nimmerwiedersehen verschwinden, die Taschen voller Geld, das Ihr ihm gegeben habt. Ich weiß, wie solche Sachen gemacht werden, Jack. Ihr seid – bedauerlicherweise – nicht der Erste, der ein Wunder vortäuscht. Dieser Mann hat noch nie im Leben ein lahmes Bein gehabt, geschweige denn zwei. Er ist nichts anderes als ein weiterer Fischer aus Wareham, stimmt’s?«
Jacks betretener Blick verriet ihn.
»Ich hab dir gleich gesagt«, mischte sich Aliena ein, »dass das nicht gut geht.«
Die beiden Priester standen wie vom Donner gerührt, und Reynold wurde wütend. »Dazu hattet Ihr kein Recht!«, fuhr er Jack an.
Philip empfand eine Mischung aus Trauer und Zorn. Wie sehr hatte er gehofft, die Madonna werde sich als echt erweisen! Es sollte wohl nicht sein. Er wandte sich ab und ließ den Blick durch die Kirche schweifen. Nur wenige Betende waren dem Krüppel nicht gefolgt, sondern starrten noch immer die Statue an. »Diesmal seid Ihr zu weit gegangen«, sagte Philip.
»Die Tränen sind echt«, sagte Jack. »Aber der Krüppel war ein Fehler.«
»Das war mehr als ein Fehler«, erwiderte Philip aufgebracht. »Wenn die Leute erfahren, dass sie an der Nase herumgeführt wurden, ist ihr Glaube an alle Wunder erschüttert.«
»Wieso müssen sie denn die Wahrheit erfahren?«
»Weil ich ihnen erklären muss, warum die Madonna nicht in der Kathedrale aufgestellt werden kann. Das kommt nun selbstverständlich überhaupt nicht mehr in Frage.«
»Ist das nicht ein bisschen voreilig gedacht?«, wandte Reynold ein.
»Wenn ich deine Meinung hören will, junger Mann, dann sage ich dir Bescheid!«, fauchte Philip.
Reynold war zum Schweigen gebracht, doch Jack ließ sich nicht so leicht das Wort verbieten. »Seid Ihr auch ganz sicher, dass Ihr den Menschen die Madonna vorenthalten dürft? Schaut sie Euch doch an.« Er wies auf die wenigen Betenden, die noch in der Kirche waren. Die Witwe Meg kniete direkt vor der Statue, und Tränen strömten über ihr Gesicht. Jack weiß nicht, fiel Philip ein, dass sie ihre gesamte Familie beim Einsturz von Alfreds Dach verloren hat. Ihre Tränen rührten ihn, und er fragte sich, ob Jack nicht doch recht haben mochte. Warum den Menschen so etwas nehmen? Weil es unehrlich ist, rief er sich streng zur Ordnung. Sie glauben nur deshalb an die Statue, weil sie ein falsches Wunder gesehen haben.
Jack kniete sich neben Meg und sprach sie an. »Warum weint Ihr?«
»Sie ist stumm«, sagte Philip.
Doch Meg antwortete auf Jacks Frage: »Die Madonna hat ebenso viel gelitten wie ich. Sie versteht mich.«
Philip stand wie vom Donner gerührt.
»Seht Ihr?«, sagte Jack. »Die Statue lindert ihr Leid … wieso starrt Ihr
Weitere Kostenlose Bücher