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Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth

Titel: Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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zuvor besessen hatte! Wo er einst siebentausend Schafe hütete, waren es nun vierzehntausend. Statt der verlorenen dreitausend Kamele erhielt er sechstausend. Und er zeugte noch einmal sieben Söhne und drei Töchter.«
    Auf den Gesichtern seiner Zuhörer malte sich Gleichgültigkeit. »Und auch Kingsbridge wird«, fuhr Philip redlich bemüht fort, »eines Tages wieder blühen und gedeihen. Die Witwen werden sich wieder einen Mann nehmen und die Witwer ein Weib. Wessen Kinder getötet wurden, die sollen wiederum Kinder haben. Unsere Straßen werden voller Menschen sein und unsere Läden voller Brot und Wein, Leder und Geschirr, Schnallen und Schuhe. Und eines Tages werden wir unseren Dom wieder aufbauen.«
    Das Schlimme war, dass Philip selbst nicht so recht an seine eigenen Worte glaubte – wie sollte er also seine Gemeinde überzeugen? Kein Wunder, dass sie unbewegt blieb.
    Aus der schweren Bibel, die vor ihm lag, übersetzte er die lateinischen Sätze ins Englische: »Und Hiob lebte noch weitere hundertundvierzig Jahre und sah seine Söhne, seine Enkel und seine Urenkel heranwachsen. Und als er starb, war er alt und lebenssatt.« Philip schloss die Heilige Schrift.
    Im Eingang der kleinen Kirche gab es eine Störung, und Philip sah verstimmt auf. Gewiss, seine Predigt hatte nicht die erhoffte Wirkung gezeigt, aber dennoch durfte er zumindest erwarten, dass sich die Leute danach ruhig verhielten. Die Kirchentür stand offen, und wer sich dort befand, verrenkte sich den Hals. Philip sah eine Menschenmenge vor der Tür. Alle, die nicht zum Gottesdienst gekommen sind, dachte er, müssen da draußen zusammengelaufen sein. Was ging da vor?
    Alles Mögliche fuhr ihm durch den Sinn – einen Überfall, ein Feuer, Truppen Berittener und viele Tote hatten sie schon gehabt. Auf das, was nun geschah, war er vollkommen unvorbereitet. Erst traten zwei Priester ein, die eine weibliche Statue auf einem Gestell trugen, das mit einem bestickten Altartuch behängt war. Ihr feierliches Gehabe deutete darauf hin, dass es sich bei der Statue um ein Heiligenbild handelte, vermutlich um die Jungfrau Maria. Hinter den beiden Geistlichen traten zwei weitere Personen ein, und das war für Philip die größte Überraschung: Aliena und Jack!
    Beim Anblick Jacks mischten sich Freude und Zorn in Philips Gefühlen. Dieser Knabe! , dachte er. An dem Tag, als er erstmals hier auftauchte, brannte die alte Kathedrale ab, und seitdem ging nichts mehr seinen gewohnten Gang, jedenfalls nicht, wenn Jack beteiligt war … Doch die Freude überwog den Zorn – soviel der Knabe auch angestellt hatte, durch ihn war das Leben stets interessant gewesen. Der Knabe! Philip sah genauer hin. Das war kein Knabe mehr. Jack war nur zwei Jahre fort gewesen, aber um zehn Jahre gealtert – sein Blick war wissend und erfahren. Wo er sich wohl aufgehalten hatte? Und wie hatte Aliena ihn gefunden?
    Die kleine Prozession kam auf ihn zu, und Philip entschied, einfach abzuwarten. Aufgeregtes Geflüster erhob sich, als die Leute die beiden jungen Menschen erkannten. Das Geflüster schwoll an, wurde zu ehrfürchtigem Gemurmel, und irgendjemand sagte laut und deutlich: »Sie weint!«
    Der Satz wurde von anderen aufgenommen und wiederholt wie im Wechselgebet: »Sie weint! Sie weint!« Philip betrachtete die Statue. Richtig, aus ihren Augen floss Wasser. Der rätselhafte Brief des Erzbischofs über die wundertätige Weinende Madonna fiel ihm ein – das also war sie. Doch ob die Tränen ein Wunder waren? Das wollte er später beurteilen. Die Augen schienen aus einer Art Kristall gemacht, die Statue selbst war aus Holz – vielleicht lag darin des Rätsels Lösung.
    Die Geistlichen drehten sich um und setzten das Gestell auf dem Boden ab, sodass die Madonna der Gemeinde gegenüberstand. Und nun begann Jack zu sprechen.
    »Die Weinende Madonna kam in einem weit, weit entfernten Land zu mir«, hub er an. Wie kommt er dazu, dachte Philip, einfach meinen Gottesdienst selber zu halten? Nun ja, soll er sagen, was er zu sagen hat. Immerhin hat er mich selbst neugierig gemacht … »Ein getaufter Sarazene schenkte sie mir«, fuhr Jack fort, und wieder gab es überraschtes Gemurmel in der Gemeinde: Sarazenen waren in allen Geschichten eigentlich stets die barbarischen, schwarzhäutigen Bösewichte, kaum jemandem war bekannt, dass sich manche hatten taufen lassen. »Zuerst wunderte ich mich nur darüber, warum ausgerechnet ich die Madonna bekam. Dennoch habe ich sie viele, viele

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