Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
sind.«
»Tatsächlich?« Jonathan war ganz Ohr. »Was denn?«
»Sie waren arm«, sagte Philip. »Reiche Leute haben keine Veranlassung dazu, ihre Kinder auszusetzen. Sie hatten keine Freunde: Freunden kann man eine Schwangerschaft nicht verheimlichen. Sie waren verzweifelt: Nur verzweifelte Menschen ertragen den Verlust eines Kindes.«
Jonathans Gesicht wirkte verspannt; er hielt die Tränen gewaltsam zurück. Philip hätte gerne für ihn geweint – für diesen Jungen, von dem alle Welt sagte, er sei ihm in vieler Hinsicht sehr ähnlich. Und nichts hätte Philip lieber getan, als Jonathan ein paar warme, tröstliche Worte über seine Eltern zu sagen. Aber wie hätte er vorgeben können, dass sie ihr Kind geliebt hatten – schließlich war er von ihnen ausgesetzt und dem fast sicheren Tod preisgegeben worden.
»Warum lässt Gott solche Dinge zu?«, fragte Jonathan.
Philip sah eine Chance und nahm sie sofort wahr. »Das ist eine Frage, die schon so manch einen in tiefe Verwirrung gestürzt hat«, sagte er. »In deinem Fall ist die Antwort aber, wie ich glaube, eindeutig: Gott wollte dich für sich selbst.«
»Ist das Euer Ernst?«
»Habe ich dir das noch nie gesagt? Es war von Anfang an meine feste Überzeugung. Schon am Tag, als du gefunden wurdest, sagte ich den Mönchen hier, Gott habe uns dich geschickt, weil er etwas ganz Bestimmtes mit dir vorhat. Es sei unsere Pflicht, sagte ich damals, dich im Dienste Gottes aufzuziehen, damit du eines Tages imstande seist, die Aufgabe, für die er dich ausgesucht hat, zu erfüllen.«
»Ob meine Mutter das weiß?«
»Wenn sie jetzt bei den Engeln ist, dann weiß sie es.«
»Worin könnte, nach Eurer Meinung, meine Aufgabe liegen?«
»Gott braucht Mönche als Schriftsteller, Aufklärer, Musiker und Bauern. Er braucht Männer, die anspruchsvolle Positionen in Kloster und Kirche übernehmen – Cellerare, Prioren, Bischöfe. Er braucht Männer, die mit Wolle handeln, Kranke heilen, Schulkinder unterrichten und Kirchen bauen können.«
»Ich kann mir kaum vorstellen, dass er ausgerechnet mir eine besondere Aufgabe vorbehalten hat.«
»Warum sollte er sich sonst so viel Mühe gegeben haben mit dir?«, fragte Philip und lächelte dabei. »Es ist natürlich denkbar, dass die Rolle, die er dir zugedacht hat, nach weltlichen Begriffen nicht besonders groß und auffällig ist. Durchaus möglich, dass er in dir einen eher stillen Mönch sieht, der sein Leben demütig dem Gebet und der Meditation weiht.«
Jonathan machte ein langes Gesicht. »Durchaus möglich, ja.«
Philip lachte. »Allerdings glaube ich das nicht. Aus Holz macht der Herr keine Messer, und aus Schuhleder keine Frauenhemden. Für ein Leben in Ruhe und Beschaulichkeit bist du nicht geschaffen. Gott weiß das. Ich vermute, er erwartet von dir, dass du für ihn kämpfst – nicht singst.«
»Das wünschte ich mir auch.«
»Hier und jetzt erwartet er von dir freilich, dass du Bruder Leo aufsuchst und ihn fragst, wie viele Laib Käse er für unseren Keller in Kingsbridge erübrigen kann.«
»Ja, richtig.«
»Ich verfüge mich ins Kapitelhaus, um mich mit meinem Bruder zu unterhalten. Und denk daran: Wenn dich die Mitbrüder über Francis ausfragen wollen, sag ihnen so wenig wie möglich.«
»Ich werde gar nichts sagen …«
»Gut – und nun fort mit dir!«
Mit schnellen Schritten überquerte Jonathan den Klosterhof. Die ernste und getragene Stimmung war längst wieder seiner üblichen guten Laune gewichen.
Philip sah ihm nach, bis er in der Käserei verschwunden war. Ich war genauso, dachte er – nur nicht ganz so gescheit. Er begab sich ins Kapitelhaus. Francis hatte ihn in einer Botschaft um ein diskretes Treffen in St.-John-in-the-Forest gebeten. Die Mönche in Kingsbridge glaubten, Philip sei unterwegs auf einer seiner normalen Inspektionsreisen. Hier, am Ort der Begegnung, ließ sich das Treffen natürlich nicht vor den Mönchen verheimlichen. Aber St.-John-in-the-Forest lag noch immer so einsam, dass die Mönche kaum je in Verlegenheit kamen, mit Außenstehenden zu reden. Nach Kingsbridge kam lediglich der Prior gelegentlich, und den hatte Philip auf Diskretion eingeschworen.
Die beiden Brüder waren im Laufe des Vormittags eingetroffen, und obwohl sie ihre Begegnung kaum als Zufall darstellen konnten, pflegten sie nach außen hin den Schein, als handele es sich um ein rein privates Treffen. Gemeinsam hatten sie das Hochamt besucht und mit den Mönchen gespeist. Erst jetzt ergab sich
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