Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
keine Steine mehr zu werfen. Die Attacke war in sich zusammengefallen – und die Angreifer schlugen sich mit ihresgleichen, stritten sich wie Hunde um einen Knochen.
»Ein undisziplinierter Haufen», sagte Aliena zu Richard. »Die können uns nicht gefährlich werden.«
Richard nickte. »Gewiss – aber sie könnten zu einer Bedrohung werden, weil sie mit dem Mut der Verzweiflung kämpfen. Was ihnen fehlt, ist eine straffe militärische Führung.«
Aliena hatte auf einmal eine Idee. »Eine Armee, die auf einen Führer wartet«, sagte sie. Richard verstand nicht, worauf sie hinauswollte. Aliena hingegen war auf einmal ganz aufgeregt. Richard war ein guter militärischer Führer ohne Armee. Die Outlaws waren eine Armee ohne Führer. Und die Grafschaft war ein Scherbenhaufen …
Wieder fielen Steine, wieder wurden ein paar Verfemte von Pfeilen durchbohrt. Die Angreifer hatten endgültig genug und wandten sich zur Flucht. Wie eine Meute geprügelter Hunde mit eingekniffenen Schwänzen rannten sie davon. Irgendjemand öffnete das Nordtor. Eine Horde junger Männer brach hervor und jagte, Schwerter und Äxte schwingend, hinter den Outlaws her. Die liefen um ihr Leben, aber einige von ihnen wurden schon bald erwischt und niedergemetzelt.
Ellen wandte sich angewidert ab und sagte zu Richard: »Du hättest die Burschen nicht rauslassen dürfen.«
»Junge Männer wollen Blut sehen nach so einer Auseinandersetzung«, sagte Richard. »Sie brauchen das einfach. Davon ganz abgesehen: Je mehr wir heute töten, desto weniger greifen uns das nächste Mal an.«
Die Philosophie eines Soldaten, dachte Aliena. Früher, in einer Zeit, in der sie Tag für Tag um ihr eigenes Leben bangen musste, hätte sie vielleicht ähnlich gedacht wie die jungen Männer und alles darangesetzt, die fliehenden Outlaws zur Strecke zu bringen. Inzwischen dachte sie anders darüber: Sie wollte die Ursachen beseitigen, die Menschen zu Outlaws machten – und nicht mehr die Gesetzlosen selbst. Und außerdem wusste sie jetzt, wie sie die Outlaws für ihre eigenen Zwecke einspannen konnte.
Richard beauftragte jemanden, zur Entwarnung die Glocken läuten zu lassen, und verdoppelte die Sicherheitsvorkehrungen für die kommende Nacht. Neben den üblichen Wachposten wurden spezielle Patrouillen eingesetzt. Aliena ging zur Priorei, um Martha und die Kinder abzuholen. Dann trafen sie sich alle in Jacks Haus.
Aliena war heilfroh, dass sie die Ihren um sich scharen konnte: Jack, die Kinder, Jacks Mutter, Richard und Martha … eine ganz normale Familie, dachte sie und hätte fast vergessen, dass ihr Vater in einem Verlies gestorben und sie selbst dem Gesetz nach mit dem Stiefbruder von Jack verheiratet war. Und Ellen – Ellen war eine Verfemte …
Sie schüttelte den Kopf. Nein, gestand sie sich ein, das geht nicht. Ich kann nicht einfach so tun, als seien wir eine ganz normale Familie.
Jack ging zum Fass, zapfte einen Krug Bier und schenkte ihnen ein. Alle waren sie noch voll innerer Anspannung und Erregung nach der überstandenen Gefahr. Ellen schichtete ein Kaminfeuer auf, und Martha schnitt fürs Abendessen Steckrüben in einen Topf. In früheren Tagen hätten sie an einem besonderen Tag wie diesem ein halbes Schwein gebraten.
Richard leerte seinen Becher mit einem Zug, wischte sich den Mund ab und sagte: »Mit so was wie heute werden wir bis zum Beginn des Frühjahrs noch mehrfach rechnen müssen.«
»Sollen sie sich doch über Graf Williams Vorratsscheuern hermachen«, sagte Jack. »Schließlich haben sie es ihm – und nicht Prior Philip – zu verdanken, dass es ihnen so dreckig geht.«
»Da müssen sie sich aber eine andere Strategie ausdenken, sonst blitzen sie bei ihm genauso ab wie bei uns.«
»Sie brauchen einen Anführer«, sagte Aliena.
»Geb’s Gott, dass sie nie einen finden!«, rief Jack aus. »Sonst werden sie uns tatsächlich noch gefährlich.«
»Ein guter Anführer führt sie vielleicht gegen William – anstatt gegen uns.«
»Versteh ich nicht«, sagte Jack. »Woher willst du das wissen?«
»Wenn er Richard hieße, wär ich mir ganz sicher.«
Mit einem Mal waren alle still.
Aliena hatte sich ihren Vorschlag genau überlegt und war inzwischen davon überzeugt, dass er einiges für sich hatte. Vielleicht können wir endlich unseren Schwur einlösen, dachte sie. Richard kann William vernichten und endlich Graf werden – und in der Grafschaft kehrt endlich wieder Frieden und Wohlstand ein … Je mehr sie darüber
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