Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
nachdachte, desto aufgeregter wurde sie. »Der Haufen heute zählte mehr als hundert Mann«, sagte sie und wandte sich an Ellen. »Wie viele hausen denn insgesamt da draußen in den Wäldern?«
»Man kann sie nicht mehr zählen«, sagte Ellen. »Hunderte, nein Tausende.«
Aliena beugte sich über den Küchentisch und blickte Richard an. »Du solltest ihr Anführer sein«, sagte sie hart. »Treib sie zusammen. Bring ihnen das Kriegshandwerk bei. Überleg dir die richtigen Angriffspläne. Und dann führe sie in die Schlacht – gegen William.«
Noch während sie auf ihn einredete, wurde ihr klar, dass sie ihren Bruder aufforderte, sein Leben aufs Spiel zu setzen. Ihr war auf einmal angst und bange zumute. Statt der Grafenwürde erwartete Richard vielleicht der Tod.
Er selbst teilte ihre Bedenken überhaupt nicht. »Mein Gott, Allie, du könntest recht haben«, sagte er. »Ich könnte eine Armee gegen William führen … meine eigene!«
Tiefsitzender Hass blitzte in seinen Augen auf. Unwillkürlich suchte Aliena die Narbe an seinem linken Ohr. Das Ohrläppchen fehlte. Sie musste böse Erinnerungen niederkämpfen, die in ihr aufzusteigen drohten.
Richard fand immer mehr Gefallen an dem Gedanken. »Ich könnte mich zuerst über Williams Vieh hermachen«, sagte er mit sichtlicher Begeisterung. »Seine Schafe stehlen, sein Wild erlegen, seine Scheuern aufbrechen, seine Mühlen überfallen. Mein Gott, wenn ich eine Armee hätte, dann könnte ich dieses Aas piesacken …«
Er ist schon immer Soldat gewesen, dachte Aliena. Jetzt sieht er eine Chance, sein Schicksal zu erfüllen … Sie war so mitgerissen von der Idee, dass sie die Sorge um Richards Leben verdrängte.
»Die Sache hat einen Haken«, sagte Richard. »Wie komme ich an die Burschen ran? Die halten sich doch dauernd versteckt.«
»Ich kann’s dir sagen«, bemerkte Ellen. »Von der Straße nach Winchester zweigt ein überwachsener Pfad zu einem ehemaligen Steinbruch ab. Das ist ihr Schlupfwinkel. Früher war er unter dem Namen ›Sallys Steinbruch‹ bekannt.«
»Ich hab’ aber keinen Steinbruch«, verkündete die siebenjährige Sally.
Alle lachten, doch es wurde rasch wieder still.
Richard wirkte zu allem entschlossen. »Gut«, sagte er mit gepresster Stimme. »Sallys Steinbruch.«
»Droben am Hügel war ein riesiger Baumstumpf, der mir schon lange ein Dorn im Auge war«, sagte Philip. »Wir hatten ihn an jenem Vormittag endlich entwurzelt. Als wir gegen Mittag zurückkehrten, stand mein Bruder Francis mit einem Säugling in den Armen dort am Ziegenpferch. Das warst du. Du warst gerade einen Tag alt.«
Jonathans Miene war ernst. Es war ein feierlicher Augenblick für ihn.
Philip inspizierte das kleine Filialkloster St.-John-in-the-Forest. Vom Wald war nicht mehr allzu viel zu sehen: Über die Jahre waren große Flächen Landes von den Mönchen gerodet und urbar gemacht worden. Auch das Kloster selbst hatte sich verändert: Es gab erheblich mehr Steinhäuser als ehedem – ein Kapitelhaus, ein Refektorium und ein Dormitorium – sowie eine Ansammlung von Scheunen, Hütten und Melkschuppen aus Holz. Für jemanden, der den Ort vor siebzehn Jahren zum letzten Mal gesehen hatte, war er kaum wiederzuerkennen. Auch die Bewohner waren nicht mehr dieselben. Einige der jungen Mönche von damals bekleideten inzwischen verantwortliche Positionen in Kingsbridge. William Beauvis – der weiland für einigen Wirbel gesorgt hatte, weil er während des Gottesdienstes dem Novizenmeister heißes Kerzenwachs auf die Glatze schnippte – war mittlerweile Prior. Andere Mitbrüder Philips aus der damaligen Zeit hatten die Priorei inzwischen verlassen: So war zum Beispiel der Unruhestifter Peter von Wareham nach Canterbury gegangen und arbeitete dort für einen ehrgeizigen jungen Erzdiakon namens Thomas Becket.
»Ich frage mich, was für Menschen sie waren«, sagte Jonathan. »Meine Eltern, meine ich.«
Philip verstand seine Not, schließlich hatte er selbst seine Eltern früh verloren. Aber er war eben doch schon sechs Jahre alt gewesen, als es geschah, und konnte sich noch recht gut an sie erinnern – an die sanfte, liebevolle Mutter und den hochgewachsenen Mann mit dem schwarzen Bart, der sein Vater gewesen war. Jonathan hatte nicht einmal diesen Trost: Alles, was er über seine Eltern wusste, war, dass sie ihn nicht gewollt hatten.
»Es gibt durchaus einiges über sie zu sagen«, meinte Philip, »wenngleich wir natürlich auf Vermutungen angewiesen
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