Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
sein. Aber wir irren uns bestimmt nicht, mein Sohn, du wirst schon sehen.«
Es gab einen tränenreichen Abschied. Siebzehn Jahre hatte Philip im Kloster gelebt. Die Mönche waren seine Familie und standen ihm inzwischen näher als seine Eltern, die man ihm weiland auf so furchtbare Weise genommen hatte. Es war gut möglich, dass er seine Mitbrüder nie wiedersehen würde, und diese Aussicht betrübte ihn zutiefst.
Kingsbridge wirkte zunächst einschüchternd und erdrückend auf ihn. Das von hohen Mauern umgebene Kloster war größer als manch ein Dorf, die Kathedrale eine gewaltige, düstere Höhle und das Haus des Priors ein kleiner Palast. Doch nachdem Philip sich erst einmal an die enormen Dimensionen gewöhnt hatte, fielen ihm bald auch schon jene Zeichen der Entmutigung auf, die Abt Peter an seinem alten Freund wahrgenommen hatte. Die Kirche war baufällig und hätte dringend renoviert werden müssen, die Gebete wurden heruntergeleiert, das Schweigegebot immer wieder gebrochen, und es gab viel zu viele Diener – mehr Diener gar als Mönche. Philips anfängliche Schüchternheit wandelte sich rasch in Zorn. Am liebsten hätte er Prior James am Schlafittchen gepackt, ihn kräftig durchgeschüttelt und angeschrien: ›Was fällt Euch ein? Wie könnt Ihr es wagen, Gott mit so hastig heruntergeplapperten Gebeten zu beleidigen? Was untersteht Ihr Euch, Novizen das Würfelspiel und Mönchen die Haltung von Schoßhunden zu erlauben? Woher nehmt Ihr die Kühnheit, von Dienerscharen umgeben in einem Palast zu leben, während Gottes Kirche zur Ruine verkommt?‹ Er sagte natürlich nichts von alledem. Er hatte eine kurze, förmliche Unterredung mit Prior James, einem hochgewachsenen, hageren und gebeugten Mann, der auf seinen gerundeten Schultern das ganze Leid der Welt zu tragen schien. Danach sprach er mit dem Subprior, Remigius. Zu Beginn des Gesprächs ließ Philip durchblicken, dass sich nach seiner Überzeugung im Kloster einiges ändern müsse. Er hatte fest mit der freudigen Zustimmung des zweiten Mannes gerechnet, doch Remigius sah ihn nur von oben herab an, als wolle er sagen: ›Für wen haltet Ihr Euch eigentlich, junger Mann?‹, und wechselte rasch das Thema.
Remigius erklärte ihm, die Zelle St.-John-in-the-Forest sei vor drei Jahren gegründet und mit Land und Gerätschaften ausgestattet worden. Obwohl sie inzwischen längst hätte autark sein sollen, müsse sie nach wie vor von der Mutterabtei unterstützt werden. Andere Unannehmlichkeiten kämen hinzu: Da hätte ein Diakonus in der Zelle übernachtet und sich über die schlampigen Gottesdienste beschwert; es lägen Klagen von Reisenden vor, die behaupteten, in jener Gegend von Mönchen ausgeraubt worden zu sein; und dann gäbe es auch noch Gerüchte über ›Unreinheit‹ … Remigius konnte oder wollte sich darüber nicht näher auslassen – ein Umstand, in dem Philip nur mehr ein weiteres Zeichen für die Gleichgültigkeit erkannte, mit der das Kloster Kingsbridge seine Geschäfte führte. Nach dem Gespräch mit Remigius zitterte er vor Wut. Ein Kloster diente der höheren Ehre Gottes. Wenn es diesem Anspruch nicht gerecht wurde, taugte es nichts. Die Priorei Kingsbridge war noch schlimmer. Der allenthalben zu erkennende Schlendrian war gotteslästerlich, und Philip konnte nichts dagegen tun. Im günstigsten Fall konnte er ein Filialkloster der Abtei reformieren.
Auf dem zweitägigen Ritt zu seiner neuen Wirkungsstätte im Wald grübelte er über die spärlichen Informationen nach, die er erhalten hatte, und überlegte sich in Demut, wie er sein neues Amt erfüllen könnte.
Ein Prior wurde gemeinhin von den Mönchen gewählt, doch bei kleineren Außenposten einer großen Abtei konnte der Prior des Mutterhauses nach eigenem Gutdünken entscheiden. Philip war daher nicht gebeten worden, sich zur Wahl zu stellen – was wiederum bedeutete, dass er nicht von vornherein auf die Kooperation der Mönche zählen konnte. Langsam und vorsichtig würde er sich in dem neuen Amt vorantasten müssen. Er musste zuerst die Schwierigkeiten besser kennenlernen, mit denen sich das kleine Kloster im Wald plagte; erst später, wenn er über alles Bescheid wusste, konnte er sich daran machen, sie zu bewältigen. Er musste den Respekt und das Vertrauen der Mönche erringen und sich vor allem der Mitarbeit jener versichern, die älter waren als er und ihm sein Amt vielleicht nicht gönnten. Sobald ich mich auskenne und meine Führerschaft unbestritten ist, dachte er,
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