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Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth

Titel: Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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dass deine Eltern tot sind?«
    »Ich weiß nicht«, erwiderte Philip kläglich. Er wusste, was es bedeutete, wenn Tiere starben – aber konnte so etwas auch Mama und Papa zustoßen?
    Abt Peter sagte: »Sterben ist wie Einschlafen.«
    »Aber ihre Augen sind doch offen!«, kreischte Philip.
    »Psst! Du hast recht. Am besten, wir schließen sie ihnen.«
    »Ja«, sagte Philip. Das war eine beruhigende Lösung.
    Abt Peter erhob sich, nahm Philip und Francis an der Hand und führte sie zur Leiche ihres Vaters. Dort kniete er nieder und nahm Philips rechte Hand in die seine. »Ich zeige dir, wie man es macht«, sagte er und führte die Hand des Jungen über das väterliche Gesicht. Philip zuckte zurück. Er traute sich nicht, seinen Vater zu berühren, er war so merkwürdig bleich, so schlaff, so entsetzlich verstümmelt. Angstvoll sah er zu Abt Peter auf – einem Mann, dem niemand zu widersprechen wagte. Aber der Abt war gar nicht böse auf ihn. »Komm«, sagte er freundlich und ergriff wieder Philips Hand, und diesmal sträubte sich Philip nicht. Der Mönch führte den Zeigefinger des Knaben an Vaters linkes Augenlid und drückte es über die Pupille, die schauerlich ins Leere starrte. Dann gab er Philips Hand frei und sagte zu ihm: »Nun schließe auch das andere Auge.«
    Erneut streckte Philip, diesmal ungeleitet, die Hand aus und schloss Vaters rechtes Auge. Danach ging es ihm etwas besser.
    Abt Peter fragte: »Sollen wir auch deiner Mama die Augen schließen?«
    »Ja.«
    Sie knieten neben der Mutter nieder. Mit den Ärmeln seiner Kutte wischte ihr der Abt das Blut aus dem Gesicht. »Und Francis?«, fragte Philip.
    »Ja, er kann uns vielleicht helfen«, sagte der Mönch.
    »Tu, was ich bei Papa gemacht habe, Francis«, sagte Philip zu seinem Bruder. »Mach Mamas Augen zu, damit sie schlafen kann.«
    »Schlafen Mama und Papa?«, fragte Francis.
    »Nein, aber es ist wie Schlafen«, gab Philip bestimmt zurück, »und deshalb sollen ihre Augen zu sein.«
    »Na gut«, sagte Francis, streckte, ohne zu zögern, sein Patschhändchen aus und drückte der Mutter die Augen zu.
    Der Abt nahm die beiden Knaben auf, in jeden Arm einen, und trug sie aus dem Haus, ohne die beiden Bewaffneten noch eines Blickes zu würdigen. Er trug sie den steilen Pfad zum Kloster empor und setzte sie unterwegs nicht ein einziges Mal ab. Sie waren in Sicherheit.
    Er gab ihnen in der Klosterküche zu essen und trug ihnen, als sie satt waren, auf, dem Koch bei der Zubereitung des Abendessens zu helfen; er wollte nicht, dass sie mit ihren Gedanken allein waren. Am nächsten Tag ließ er sie noch einmal ihre toten Eltern sehen. Die Leichen waren gewaschen und gekleidet, die Wunden, soweit noch sichtbar, gesäubert. Die offenen Särge waren nebeneinander im Kirchenschiff aufgebahrt. Es waren nicht die einzigen. Eine Reihe von Verwandten und Bekannten aus dem Dorf hatte es ebenfalls nicht mehr geschafft, sich vor den marodierenden Soldaten der Invasionstruppen in Sicherheit zu bringen. Abt Peter begleitete die Buben zur Beerdigung und achtete darauf, dass sie sehen konnten, wie die beiden Särge nebeneinander in das gemeinsame Grab gelassen wurden. Als Philip zu weinen anfing, stimmte auch Francis ein. Irgend jemand machte »Psst!«, doch Abt Peter sagte: »Lasst die Kinder weinen.« Erst als kein Zweifel mehr daran bestehen konnte, dass die Kinder den Tod ihrer Eltern und die Endgültigkeit des Abschieds begriffen hatten, sprach er mit ihnen über ihre Zukunft.
    Unter ihren Verwandten gab es nach dem Überfall keine einzige unversehrte Familie mehr. Alle hatten den Verlust der Mutter oder des Vaters zu beklagen, und niemand war bereit oder imstande, sich um die beiden Jungen zu kümmern. Damit standen nur noch zwei Möglichkeiten offen: Sie konnten entweder einem Bauern überlassen (oder gar verkauft) werden, der sie als Arbeitssklaven benutzen würde, bis sie alt und stark genug waren, um davonzulaufen. Oder aber sie kamen in die Obhut des Herrn.
    Dass Kinder im Kloster aufgenommen wurden, geschah durchaus nicht selten. Das Eintrittsalter lag gemeinhin bei elf Jahren und das Mindestalter – da die Mönche im Umgang mit Säuglingen und Kleinkindern nicht geübt waren – bei fünf. Einige der Zöglinge waren Waisen, andere Halbwaisen, und wieder andere stammten aus Familien, in denen es zu viele Söhne gab. Im Regelfall bekam das Kloster von den Eltern noch eine üppige Mitgift – einen Hof, eine Kirche oder sogar ein ganzes Dorf, doch konnte bei

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